Am 10. November 2009 nahm sich Fußball-Nationaltorwart Robert Enke das Leben. Er litt an schweren Depressionen. Mario Eggimann, heute KSC-Vizepräsident, war damals Enkes Teamkollege. Die Erkrankung und der Tod seines Mitspielers veränderten seinen Blick auf den Profifußball.
Mario Eggimann (43) kennt sich aus im Fußball-Geschäft. Die Profikarriere des Schweizers begann mit 17 und dauerte 17 Jahre. Eggimann spielte zunächst beim FC Aarau, ehe er 2002 zum Karlsruher SC wechselte. Als Kapitän führte er die Badener 2007 in die Bundesliga. Ein Jahr später wechselte der Schweizer Nationalspieler (10 Länderspiele) zu Hannover 96. Dort erlebte der Innenverteidiger hautnah, wie der Suizid von Nationaltorwart Robert Enke für einen Ausnahmezustand sorgte - im gesamten Fußball, aber auch bei ihm privat. Enke, der schon viele Jahre an Depressionen litt, nahm sich am 10. November 2009 das Leben. Eggimann weiß aus eigener Betroffenheit, wie wichtig das Thema mentale Gesundheit ist.
Nach seinem sportlichen Karriereende 2015 (als Spieler von Union Berlin) beschloss der Familienvater, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Sindelfingen lebt, sich weiterzubilden. Er belegte Kurse in Gesprächs- und Traumatherapie. Als Gründer der Agentur SportsTransfer sieht er sich als etwas anderer Spielerberater. Bei Eggimanns Arbeit steht der Mensch im Fokus. In der Zusammenarbeit mit den Nachwuchsspielern haben auch Probleme und Krisen ihren Platz.
Im SWR-Interview spricht Eggimann über Robert Enke, seinen eigenen Umgang mit Ängsten, die Bedeutung von Psychologen und Mentoren im Fußball und gibt Ratschläge für den Nachwuchs.
SWR Sport: Mario Eggimann, welche Erinnerung haben Sie an Robert Enke?
Mario Eggimann: Ich habe ein Bild von ihm vor Augen. Robert hatte immer den Blick leicht nach oben, das Kinn in die Höhe gestreckt. Er war ein stolzer Mensch, der unglaublich viel Energie hatte und uns Mitspielern viel gegeben hat. Robert war sehr zurückhaltend und hat sich nie in den Vordergrund gedrängt, obwohl er damals Nationaltorwart war.
Im November 2009 nahm sich Robert Enke das Leben. Zwei Tage zuvor hatte er noch beim Bundesligaspiel Hannover 96 gegen den HSV im Tor gestanden. Enkes Tod war nicht nur für Sie als Mitspieler eine sehr belastende Situation, sondern auch für Ihre Frau. Deren Vater hatte auch Suizid begangen. Wie sehr hat sie das als Paar belastet?
Mein Schwiegervater hatte auf die gleiche Art wie Robert Suizid begangen. Damals war meine Frau 17 Jahre. Dieser Suizid hatte sie all die Jahre beschäftigt, ich war ein Teil des Prozesses, das zu verarbeiten. Sie kam immer besser damit klar. Durch Roberts Selbstmord wurde dies alles wieder neu aufgewühlt. Es war für uns beide eine Belastungsprobe. Aber wir haben das gut hinbekommen, weil wir viel gesprochen haben.
Wie ist es Ihnen persönlich gelungen, diese Tragödie zu verarbeiten?
Ich habe es eher im Stillen mit mir ausgemacht. Es gab damals eine enorme mediale Aufmerksamkeit, und der Verein Hannover 96 war sportlich in Abstiegsgefahr. Es war für alle eine große Herausforderung. Wir Spieler haben sehr viel Unterstützung bekommen. Zwei externe Personen haben mit uns als Mannschaft gearbeitet. Auch Sportdirektor Jörg Schmadtke war auf eine solche Ausnahmesituation nicht vorbereitet. Ich habe höchsten Respekt davor, wie er das gemeistert hat. Er hat nach außen Ruhe und Stabilität ausgestrahlt und uns damals da durchgeführt.
Die Hilfsangebote durch den Verein waren sicherlich wichtig. Haben Sie sich zusätzlich noch individuelle Unterstützung geholt?
Da muss ich etwas ausholen. Ich hatte als kleines Kind schon immer Ängste. Ich hatte Versagensängste und konnte nicht gut mit Druck umgehen. Als ich mit Anfang 20 als Profi beim Karlsruher SC spielte, hatte ich eine schwierige Zeit. Ich bekam Kontakt zu einem Mentaltrainer, der mir helfen konnte. Danach kam ich längere Zeit gut klar. Als dann die Sache mit Robert passierte, begann ich zu reflektieren: Wie geht es mir eigentlich in diesem Profi-Geschäft? Daraufhin fing ich an, wieder mit jemandem zu arbeiten.
Damals wurde öffentlich kaum über Depressionen oder psychische Belastungen gesprochen. Mittlerweile äußern sich Fußballprofis offen zum Thema „Mentale Gesundheit“. Timo Baumgartl, Robin Gosens, Markus Miller, Martin Amedick, Gianluigi Buffon, Andrés Iniesta oder zuletzt Alvaro Morata holten sich psychologische Unterstützung. Wie sehen Sie diese neue Offenheit?
Positiv. Etliche Vereine in Deutschland haben mittlerweile Psychologen angestellt. In den Nachwuchsleistungszentren (NLZ) ist es ja inzwischen Pflicht, aber auch bei den Profis arbeiten solche Fachleute. Wir beim KSC haben mit Yannick Romswinckel einen richtig guten Mann bei der Profimannschaft. Viele Spieler sagen mir, dass es toll sei, dieses Angebot zu haben.
Worauf sollten Spieler achten, wenn sie mit einem Coach zusammenarbeiten wollen?
Wichtig ist, dass die Chemie, also das Zwischenmenschliche zwischen Sportler und Coach stimmt. Ich finde es wichtig, wenn der Psychologe oder Mentor über eine gewisse Lebenserfahrung verfügt. Für die Nachwuchskicker wünsche ich mir mehr reife Persönlichkeiten, Mentoren und Vaterfiguren, von denen sie lernen und profitieren können. Wir haben viele junge Trainer, die teilweise noch mit sich selbst zu kämpfen haben, aber zugleich Vorbild für diese Jungs sein sollen. Aber das schaffen nicht alle.
Sie haben 2015 Ihre Fußballer-Karriere beendet. Danach haben sie sich weitergebildet. Was haben Sie gemacht?
Am Ende meiner Karriere habe ich lange Zeit mit einer Trauma-Therapeutin zusammengearbeitet. Das tat mir unglaublich gut und hat mich sehr stabil gehalten. Ich habe dann eine kleine Ausbildung in dem Bereich gemacht. Dazu habe ich eine dreijährige therapeutische Fortbildung gemacht. Mir macht diese Arbeit sehr viel Spaß. Ich arbeite auch mit Klienten aus dem Nicht-Sportbereich.
Nach Enkes Tod wurde viel darüber gesprochen, dass wir menschlicher und respektvoller miteinander umgehen sollten – gerade im Leistungssport. Heute, 15 Jahre später, erleben wir trotzdem Hasskommentare im Netz, Anfeindungen gegenüber Schiedsrichtern, Häme von Sportreportern oder respektlose Analysen von Experten. Hat sich also gar nichts geändert?
Doch. Ich glaube schon, dass sich etwas verändert hat. Die Sensibilität ist deutlich gestiegen. Ich glaube, dass es vielen Sportlern geholfen hat, sich zu outen. Wenn sich Alvaro Morata, der Kapitän des Fußball-Europameisters, hinstellt und sagt 'Mir ging es nicht gut', dann ist das vor allem für junge Leute ein wichtiges Signal. Sie sagen sich: Wenn der das kann, kann ich das auch.
Womit hatten Sie während Ihrer 17 Jahre als Fußballprofi am meisten zu kämpfen?
Ich habe jeweils in den letzten 24 Stunden vor meinen Spielen gelitten. Ich war immer total aufgeregt und konnte nicht schlafen. Ich hatte Ängste und Sorgen: Wie spiele ich morgen? Mache ich Fehler? Das ging bis zum Anpfiff, ab dann war wieder alles okay. Aber diese Zeit vor den Spielen war schlimm. Auch die Momente, in denen ich öffentlich kritisiert wurde, waren nicht schön. Aber grundsätzlich hatte ich eine wunderschöne Zeit als Profi, für die ich sehr dankbar bin.
Haben sich diese Ängste, von denen Sie sprechen, im Laufe der Zeit gelegt oder waren sie ein permanenter Begleiter?
Ich bekam sie durch fachliche Unterstützung einigermaßen unter Kontrolle. Wenn du mit Ängsten zu kämpfen hast und in diesem Geschäft bist, ist es schwierig, das wegzubekommen. Es ging mir eher darum zu lernen, damit umzugehen. Diese Zeit war nicht einfach und hat viel Energie gekostet. Erst nach meiner Karriere habe ich gelernt, mit Drucksituationen richtig umzugehen.
Sie hätten auch die Reißleine ziehen und mit dem Fußballspielen aufhören können.
Das stimmt. Ich möchte auch nicht jammern. Ich hätte jederzeit sagen können 'Ich mache was anderes, das ist zu schlimm für mich.' Diese Möglichkeit hat jeder. Aber ich habe das bewusst durchgestanden. Ich sagte mir: Das ist verdammt schwierig, aber ich gehe da durch.
Was glauben Sie, wo liegen die Ursachen für diese Ängste?
Letztlich geht es im Fußball – wie in vielen anderen Lebensbereichen - um Existenzen. Wenn ich einen schweren Fehler mache, spiele ich vielleicht nicht mehr. Wenn ich nicht spiele, kriege ich keinen Vertrag mehr. Wenn ich keinen Vertrag mehr bekomme, finden mich die Leute blöd und meine Frau verlässt mich womöglich. Irgendwann habe ich kein Geld mehr und lande unter der Brücke. Das ist im Schnelldurchlauf ein gedankliches Horror-Szenario, das im Kopf passieren kann.
Sie leiten die Spielervermittlungsagentur SportsTransfer und betreuen aktuell etwa 40 junge Fußballerinnen und Fußballer. Was brauchen diese jungen Leute für einen erfolgreichen Weg - außer sportliches Talent?
Sie brauchen Zeit. Zeit, sich zu entwickeln. Die meisten Nachwuchsfußballer wollen zu schnell mit der Brechstange nach oben. Sie haben zu wenig Geduld, sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Diejenigen, die bereit sind zu reflektieren, was sie dazu beitragen können, um ein Problem zu lösen, sind am Ende häufig vorne. Mir macht es Spaß, die Spielerinnen und Spieler dabei zu unterstützen.
Zurück zu Robert Enke. Was wäre seine Botschaft in der heutigen Zeit?
Ich wünschte mir sehr, dass er es damals überstanden hätte. Ich denke, Roberts Botschaft wäre heute sehr kraftvoll. Die Robert-Enke-Stiftung, die von seiner Frau Teresa gegründet wurde, macht mit ihrer Aufklärung über die schwere Erkrankung Depressionen eine ganz wichtige Arbeit. Diese Stiftung ist letztlich Roberts Botschaft.