Der Geiger Niklas Liepe hat zusammen mit der Komponistin Rachel Portman und dem Dichter Nick Drake ein Konzeptalbum entwickelt – ihr Thema ist der menschengemachte Klimawandel, die Hilflosigkeit und Trauer darüber und gleichzeitig die Frage nach einem möglichen künstlerischen Umgang mit der Katastrophe.
Immer heißer
Die ach so zivilisierten Gesellschaften der wohlhabendsten Staaten dieser Welt haben es geschafft: das Klima, und mit ihm das menschliche Leben auf diesem Planeten, stehen auf der Kippe. 1,5 Grad – dieses Ziel hat die Weltgemeinschaft so gut wie verfehlt, allen voran die reichsten Industrienationen Kanada, Australien, die USA, Saudi-Arabien, China und Deutschland.
Über 40 Milliarden Tonnen wurden im Jahr 2023 vor allem durch fossile Energiegewinnung in die Atmosphäre gepustet. Arten sterben aus, der Ozean leert sich, die Eisvorräte des Planeten schmelzen. Wirbelstürme verwüsten Städte, Fluten reißen Häuser ein, Feuer zerfressen die Landschaft. Es wird heißer und heißer.
Das Verhältnis des Menschen zur Umwelt
Was kann Kunst, was kann Musik in so einer Zeit leisten – oder ist sie gar belanglos angesichts des realen Leids überall? Kann Kunst die sich auflösende Welt irgendwie zusammenhalten? Kann Musik vielleicht sogar Veränderung anstoßen?
Der Geiger Niklas Liepe, die Komponistin Rachel Portman und der Dichter Nick Drake glauben daran. Sie haben sich dazu entschieden diese Fragen selbst zum Thema zu machen. Auf ihrem Album „Tipping Points“ – „Kipppunkte“ verbinden sie auf zwei CDs Musik von Rachel Portman und Antonio Vivaldi miteinander, die sich im Großen und Ganzen mit dem Verhältnis des Menschen zur Umwelt befassen – Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ hat Komponist Wolf Kerschek dabei für Geiger Niklas Liepe umarrangiert zu einem filmmusikalischen Großwerk.
„Tipping Points“: Die vier Elemente
Zentrum des Album-Projekts ist aber das 2022 uraufgeführte gleichnamige Werk „Tipping Points“ von Rachel Portman: ein spartenübergreifender Zyklus, der Portmans Musik mit eingesprochenen Gedichten von Nick Drake verbindet.
Alles beginnt mit einer Anrufung, einer Erinnerung daran, dass diese Veränderung gerade keine natürliche ist – sondern eine menschengemachte und eine bedrohliche. Dann widmen sich die Interpretinnen und Interpreten, das WDR Funkhausorchester unter Leitung von Erina Yashima, Solist Niklas Liepe und Sprecherin Grainne Dromgoole, einem jeweils musikalischen Porträt jedes der vier Elemente – Luft, Wasser, Feuer und Erde.
Alle Augen richten sich hier also auf die Natur, ihre Schönheit, ihre Verletzlichkeit, aber auch ihre Kraft. Die Musik klingt dabei mitunter so harmonisch und sanglich, und der Text balanciert seine sprachlichen Mittel so sauber, dass beides zusammen regelrecht entrückt wirkt, märchenhaft-filmisch, wie aus einer fantastischen Saga – als hätte jemand auf „Pause“ gedrückt, um der Geschichte noch eine Moral hinzuzufügen.
„Ehrlicher Versuch“
Allerdings: Man kann nicht auf „Pause“ drücken. Ist Rachel Portmans Komposition also der Soundtrack zur Apokalypse, von den und für die Privilegierten, die sich erschrecken, wenn sie in den Nachrichten Bilder von brechenden Eisbergen, Hunger und Zerstörung sehen?
Vielleicht. Zuerst aber ist dieses Album ein sehr ehrlicher Versuch, mittels Text und Musik der Ohnmacht, Angst und Überwältigung Ausdruck zu verleihen, die wohl jeder und jede spürt, wenn sie sich nur ein bisschen tiefer mit der Katastrophe beschäftigt.
So nachvollziehbar wie dieses Gefühl ist auch die Musik, ist auch der Text, und das ist okay. Als Zeitzeugnis ist dieses Album daher sehr wertvoll. Und wenn schon alles andere nicht hilft, vielleicht schafft es ja die Kunst ein paar von uns aus ihrer Passivität herauszuholen.
Zur gesamten Aufnahme von Rachel Portmans „Tipping Points“ mit dem WDR Funkhausorchester und Niklas Liepe