Matthias Goerne singt Schubert-Lieder. Ob im Konzert oder im Aufnahmestudio: Der Bariton ist seit langem eng vertraut mit diesem Repertoire, wie auch etliche Einspielungen mit den unterschiedlichsten Pianisten zeigen. Wenn nun dennoch eine neue Schubert-Aufnahme mit Matthias Goerne vorgestellt wird, muss es dafür schon besondere Gründe geben.
Obacht vor dem Kitsch!
Eine Ode an die Sinnlichkeit, ein Lob auf Zartheit, Schönheit, Milde! Dabei könnte Franz Schuberts Lied „An Silvia“ leicht kitschig wirken, betrachtet man nur die deutsche Übersetzung dieses Shakespeare-Textes. Daher ist Vorsicht geboten für jeden Sänger: Nur ja nicht zu dick auftragen.
Schon mit dem ersten Lied gelingt die Überraschung: Matthias Goerne, der über eine sonore, vor allem aber kräftige, ja im besten Sinne raumfüllende Stimme verfügt, nimmt sich hier ganz zurück. Hier ist er ein sehr subtiler Gestalter, der eher dezent andeutet als schmachtvoll ausholt. Eine Lied-Miniatur voller Grazie. Und die zweite Überraschung? Natürlich, die Begleitung. Alle hier ausgewählten 19 Lieder erklingen in einer bislang noch nicht dokumentierten Orchesterfassung.
So nah am Original wie möglich
Nun haben Orchestrierungen von Schubert-Liedern eine lange Historie, auch prominente Komponisten haben sich daran gewagt, von Hector Berlioz bis Anton Webern. Doch diese Bearbeitungen für Kammerorchester sind neu. Sie stammen von Alexander Schmalcz, mit dem Goerne bereits in früheren Jahren als Pianist zusammengearbeitet hat.
Schmalcz ist nach dem einfachen Motto verfahren: So nah am Original bleiben wie möglich! Er hat Schuberts Klavierstimme ohne größere Eingriffe auf die einzelnen Orchesterstimmen übertragen, behutsame Zutaten beziehen sich auf Farben und Stimmungen. Das funktioniert, und wie. Wohl auch, weil sich die Instrumentierung in dieser Einspielung nie aufdrängt. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit Florian Donderer als leitendem Konzertmeister scheint diesen Ansatz tief verinnerlicht zu haben.
Musikalische Verschmelzung
Nie wird die Sänger-Stimme zugedeckt oder gefährdet, im Gegenteil: ihr wird mit größter Umsicht ein Boden bereitet, so dass Matthias Goerne darüber vor allem in den unterschiedlich leisen Bereichen subtil variieren kann. In „Der Tod und das Mädchen“ etwa verschmelzen die warmen, dunkel timbrierten Instrumente mit den Klagelauten des Sängers.
Ein bleibender Wunsch: Die komplette Winterreise für Orchester arrangiert
Man hört dieser Fassung gern zu, so dass prompt der Wunsch aufkommt: Ob Alexander Schmalcz wohl eines Tages Lust hätte, die komplette „Winterreise“ zu arrangieren? Das würde dem Zyklus vermutlich neue, zumindest vertiefende Sichtweisen zukommen lassen. Aber bleiben wir einstweilen bei dieser Einspielung. Zu den Kernliedern der neuen Aufnahme zählen die drei „Gesänge des Harfners“. Auch hier formen Orchester und Solist eine Einheit des Natürlichen.
Das Getragene wirkt nie pathetisch oder weihevoll, das Melancholische nie tränenschwer. Immer bringen Orchester und Solist die jeweilige Stimmung auf den Punkt. Das zeigt sich besonders im „Erlkönig“, dessen gestalterische Schwierigkeit darin liegt, die einzelnen Stimmen differenziert abzubilden: die des Vaters, die des Sohnes und die des Erzählers. Wuchtig, energisch gelingt der Deutschen Kammerphilharmonie gleich der Beginn.
Eine klar Hörempfehlung
Diese neue Einspielung überzeugt in mehrerlei Hinsicht. Ich möchte nur zwei Punkte herauspicken: zum einen die umsichtige Orchestrierung von Alexander Schmalcz, die ein scheinbar bekanntes Repertoire in modifiziertem Licht erscheinen lässt.
Zum anderen: Matthias Goerne gelingt mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eine äußerst feinsinnige, bin in Details hinein genau einstudierte, insgesamt sehr organische und natürliche Deutung. Fazit: Klare Hörempfehlung!
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