Dissonant am Anfang, grandioser Schluss: Der Eingangschor
Als Johann Sebastian Bach die Matthäus-Passion 1727 in der Thomaskirche erstaufführt, weiß er: Er benötigt den vollständigen musikalischen Apparatus am höchsten Gedenktag der evangelischen Kirche.
In den Jahren zuvor hatte er seine Johannes-Passion zur Aufführung gebracht. Entgegen dem sehr klaren Bild der am Golgata-Hügel zusammenlaufenden Menschen von Jerusalem zu Beginn der Johannes-Passion wird es bei der Matthäus-Passion am Anfang direkt dissonant.
Das Orchester beginnt in e-Moll, das Orchestervorspiel ist sehr lang. Als Hörerschaft wissen wir nicht, wo es hingehen soll, erklärt Dirigent Reinhard Goebel. Dann setzt der erste Chor mit einem Einwurf an: „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen.“ Die Aufforderung hägt im Raum, bis der zweite Chor entgegnet:
Die Chöre, die Bach für die Uraufführung zur Verfügung standen, waren nicht so dimensioniert wie heute: Drei Chöre à zwölf Knaben und ein vierter, der — so Goebel — nur zum Mitsingen taugte. Die Sängerknaben standen an der Brüstung der Emporen und sangen in die Kirche hinein. Die Orchester waren hinter ihnen positioniert.
Ein dritter Chor wirft dann weiter ein: „Oh Lamm Gottes unschuldig, / Am Stamm des Kreuzes geschlachtet.“ In der Thomaskirche stand dieser Chor wohl abseits der Emporen.
Das Ende wird schließlich ganz grandios, so Goebel. Der Chor stimmt unisono zu einem riesigen Crescendo an.
Dramaturgisch ineinandergreifende Kettenglieder: Die Ölberg-Szene
Im Garten Getsemaneh, am Ölberg, begibt sich Jesus ins Zwiegespräch mit Gott, während seine Jünger schlafen. Bach verbindet die dramaturgische Ebenen der Passion-Schlüsselszene gekonnt mit der musikalischen, urteilt Reinhard Goebel. Die Formen, Texte und kompositorischen Kunstgriffe der Matthäus-Passion passen seiner Meinung wie Kettenglieder perfekt ineinander.
Jesu Worte werden in den Rezitativen von einem vierstimmigen Streichersatz hinterfangen. Seine Rede wird durch lang ausgehaltene Töne umrahmt. Deshalb muss man sich immer fragen, was uns der Komponist sagen will, wenn sich die Akkorde in Viertel, Achtel oder sogar Sechzehntel auflösen, so der Dirigent.
Beachtlich ist vor allem die Bewegung der Stimmen bei Jesu Einwurf: „Ich bete.“ Alle vier Stimmen bewegen sich gegeneinander und formen jeweils einen konkaven oder konvexen Bogen. Bach hat hier etwas für den Connaisseur eingebaut, erkennt Goebel: Als geschickter Komponist bedeutet er mit den Noten um Jesu Worte ein Paar betender Hände.
Jesu Trauer und Angst zeigt uns die Matthäus-Passion nicht nur im Text. Durch vibrierende Streicherakkorder versinnbildlicht Bach das Zittern und Zaudern seiner Seele.
Der Betrug des Petrus: „Erbarme dich-Arie“
Jesus sagt es voraus: „Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und so geschieht es natürlich: Petrus ruft aus: „Ich kenne des Menschen nicht.“
Reinhard Goebel erklärt: Die Musik nimmt den Betrug Petri auf. Aus dem Fis- landet Petrus am Ende der Phrase in einem Cis-Dur-Akkord. Der falsche Klang spiegelt die Falschheit seiner Aussage wider.
Es folgt ohne Arioso direkt die „Erbarme dich-Arie“, der Diamant im zweiten Teil der Passion, wie Reinhard Goebel findet. Es ist auch die erste Arie für die Streicher des erstes Ensembles. Ihre Aufgabe war es bislang, die Worte Jesu zu umrahmen.
Die Arie ist Petri persönliche Klage. Die Solo-Geige kann sich über dem Orchester frei entwickeln. Besonders interessant: Die Auswirkungen der Lüge des Jüngers werden durch die Bassmelodie vorangekündigt. Der Bass spielt bereits die ersten Noten des späteren „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das, so Goebel, werde gerne überhört. Es sei auch nur ein Einwurf von der Seite.
Bach greift auf das Modernste zurück, was ihm die Kirche erlaubt: Schluss-Szene
Wie ihr Schwesterwerk, die Johannes-Passion, endet die Matthäus-Passion mit einer Chaconne. Es ist das modernste an Kompositionskunst, das sich Bach in der Kirche erlauben konnte, erklärt Reinhard Goebel. Bach habe sich generell in der Passion durchgeschlängelt an der Grenze dessen, was musikalisch als schicklich galt.
In der Dramatik orientiert sich der Komponist an der französischen Oper. Zum Schluss lässt er alle Solisten nochmals auftreten: Beginnend mit dem Bass ziehen uns die Einwürfe der Solisten in die himmlischen Höhen empor. Und ihnen antwortet immer wieder der Chor:
Auch das Orchester übernimmt eine rhetorische Figur, so Goebel. Denn das zweite Orchester legt Jesus musikalisch hinab ins Grab. Das Stück endet mit der Chaconne und ihrer gleichbleibenden Bassfigur. Harmonisch bettet Bach den Heiland zur Ruhe. Dann rufen wieder die Töchter Zions, die das Werk eröffneten: