200 Jahre Beethovens Neunte: Das Beethoven-Denkmal am Beethovenplatz, Wien

Freude schöner Götterfunken

Neun Fakten über Beethovens Neunte: Vom Überraschungserfolg zur Europahymne

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Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik

Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Vor 200 Jahren, am 7. Mai 1824, feierte Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 9 in Wien ihre Uraufführung. Heute ist das Stück für Orchester, Solisten und Chor eines der bekanntesten Klassik-Werke der Welt, wenn nicht sogar das bekannteste – und die offizielle Hymne der Europäischen Union.

  1. Ein solches Werk wurde von Beethoven nicht erwartet
  2. Eigentlich ein britischer Auftrag
  3. Schillers „Ode an die Freude“ war ein Trinklied
  4. Ein internationales Schlüsselwerk
  5. Die Neunte und die Nazis
  6. Heimliche deutsche Nationalhymne
  7. Was die Neunte mit der Länge der CD zu tun hat
  8. Nicht nur musikalisches, auch Dokumentenerbe
  9. Hymne des vereinigten Europas

Daniel Harding dirigiert Beethovens Neunte (2016)

1. Ein solches Werk wurde von Beethoven nicht erwartet.

Als Beethoven seine 9. Sinfonie am 7. Mai 1824 im Wiener Theater am Kärntnertor zur Uraufführung bringt, scheint es eigentlich so, als habe der Komponist seinen Zenit bereits überschritten. Zudem befindet sich Wien in den 1820er-Jahren im Bann der spielerischen Opern von Gioachino Rossini.

In den vergangenen Jahren ist Beethoven vollkommen taub geworden – ein Leiden, über das er bereits im Brief an die bis heute nicht eindeutig zugeordnete „Unsterbliche Geliebte“ von 1812 schreibt. Dennoch – oder vielleicht sogar gerade deshalb – gelingt ihm mit seiner letzten vollendeten Sinfonie ein Werk, das die sinfonische Komposition völlig neu prägen wird.

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Mit rund 70 Minuten Aufführungszeit ist die Neunte deutlich länger als damals für sinfonische Werke üblich. Außerdem ist Beethoven der Erste, der im Finalsatz einer Sinfonie mit Solistinnen und Solisten und vierstimmigem Chor arbeitet. Die abendfüllenden Sinfonien Bruckners und Mahlers stehen klar in der Tradition von Ludwig van Beethovens Neunter.

2. Eigentlich ein britischer Auftrag

Ist Beethovens Neunte ein österreichisches Werk? Vielleicht sogar ein deutsches? Wenn man nach dem Auftraggeber geht, ist die Antwort ein klares Nein. Denn dieser kommt 1817 von der Royal Philharmonic Society in London.

Der träumende Beethoven an seinem Klavier
Der träumende Beethoven an seinem Klavier, umgeben von seinen Werken. So verklärte Aimé de Lemud das schöpferische Genie des in Bonn geborenen Komponisten.

Dennoch findet die Uraufführung in Wien statt. Sie wird zu einer Veranstaltung von nationalem Interesse erklärt, Beethoven plant sie als Akademie-Konzert mit anderen aktuellen Werken. Das Publikum nimmt die neue Beethoven-Sinfonie begeistert und mit frenetischem Applaus auf. Sie ist so beliebt, dass das Konzert drei Wochen später in der Hofburg wiederholt wird.

In London kommt Beethovens Sinfonie ein Jahr später an, die britische Erstaufführung findet am 21. Mai 1825 statt. Die Kopisten-Abschrift der Partitur, die Dirigent George Smart für die Londoner Erstaufführung nutzt, befindet sich heute in der British Library.

3. Schillers „Ode an die Freude“ war ein Trinklied

Der Text zu den Solo- und Chorpartien im Finalsatz der Neunten stammt bekanntermaßen von niemand geringerem als Friedrich Schiller. Mitten in der Aufbruchstimmung des Sturm und Drang schreibt der 26-jährige Dichter und Dramatiker im Sommer 1785 im Leipziger Exil seine „Ode an die Freude“.

Schiller schreibt das Gedicht als poetische Freundschaftserklärung an seinen Leipziger Gönner Christian Gottfried Körner, seines Zeichens überzeugter Freimaurer. Als Lied wird es unter Studenten äußerst populär, nicht zuletzt auch, da es inhaltlich reichlich feuchtfröhlich daherkommt. So heißt es bei Schiller unter anderem:

Freude sprudelt in Pokalen, /
in der Traube goldnem Blut /
trinken Sanftmut Kannibalen, /
Die Verzweiflung Heldenmut – /
Brüder fliegt von euren Sitzen, /
wenn der volle Römer kraißt, /
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: /
Dieses Glas dem guten Geist.

Beethoven spielt über 30 Jahre mit dem Gedanken, das Schiller-Gedicht zu vertonen. Als er sich entscheidet, den Chor in seine 9. Sinfonie einzusetzen, schnitzt er sich aus Schillers Zeilen ein Kondensat zusammen, das zu seinem Programm republikanischer Ideale passt. Die weinseligen Passagen lässt er dabei außen vor.

4. Ein internationales Schlüsselwerk

Es ist wohl kaum untertrieben, Beethovens Neunte als Schlüsselwerk der westlichen Kultur zu bezeichnen. In ihrer kulturellen Bedeutung steht die Neunte auf einer Stufe mit der „Mona Lisa“, der Akropolis und der Luther-Bibel.

Weltweit wurde und wird die Sinfonie heute gespielt: von den Vereinigten Staaten bis nach Russland, von Afrika bis Australien.

Eine besondere Tradition gibt es aber in Japan, wo der „Chor der 10.000“ alljährlich in Osaka zusammenkommt. 10.000 Laiensängerinnen und -sänger bringen hier die 9. Sinfonie besonders stimmgewaltig auf die Bühne.

5. Die Neunte und die Nazis

In den Umsturzjahren der Deutschen Revolution steigt Richard Wagner noch zu Beethovens Klängen auf die Barrikaden. Dann verliert die Neunte im Lauf des 19. Jahrhunderts ihren subversiv-revolutionären Charakter. Ihr ursprünglich aufrührerisches Gedankengut wird in den 1920er-Jahren von der Arbeiterbewegung wiederentdeckt.

Karikatur: Beethoven und Goethe blicken missbilligens auf Adolf Hitler in den Trümmern Deutschlands
„Unglück, was hast du aus Deutschland gemacht“: Auf dieser satirischen Postkarte von Paul Barbier blicken Beethoven und Goethe missbilligend auf die Verbrechen Hitlers hinab.

Schließlich bedienen sich auch die Nationalsozialisten der Neunten Sinfonie für ihre Ideologie. Beethoven wird neben Mozart und Wagner zum Titan der deutschen Musiktradition überhöht, der gerade in der 9. Sinfonie das Unmögliche geschafft habe, indem er seine Taubheit überwand.

Beethovens Werke werden entsprechend im Ausland für deutsche Propaganda-Zwecke eingesetzt. Star-Dirigenten wie Furtwängler und Karajan tragen im Auftrag der Nazis Beethovens Werke in die Konzertsäle weltweit.

Wilhelm Furtwängler dirigiert 1937 die Neunte auch erstmals zu Ehren von Hitler, an dessen Geburtstag. Diese Tradition wird bis in die Weltkriegsjahre fortgeführt.

6. Heimliche deutsche Nationalhymne

Nach dem Sieg der Alliierten wird Beethoven erneut im Sinne der Siegermächte neu gelesen. Mit seiner großen Freiheitsoper „Fidelio“ wird in Wien die Befreiung vom Nazi-Terror gefeiert. Der Schlusschor der Neunten avanciert in dieser neuen Umbruchzeit zum Ersatz für Deutschlands Nationalhymne. Bis 1952 wird sie für die Bundesrepublik statt des immer noch dreistrophigen „Deutschlandlieds“ gespielt.

Auch bei den Olympischen Spielen, bei denen bis 1964 eine gesamtdeutsche Mannschaft antritt, wird die „Ode an die Freude“ zum Ersatz für die Hymnen der beiden deutschen Republiken.

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Schließlich wird die Neunte auch zum Symbolwerk der Wiedervereinigung. Leonard Bernstein dirigiert sie an Weihnachten 1989 anlässlich des Mauerfalls in Berlin mit Musikerinnen und Musikern aus München, Dresden, Paris, London, New York und Sankt Petersburg. Im Text lässt er dabei das Wort „Freude“ durch „Freiheit“ ersetzen.

Auch am Vortag der Wiedervereinigung, am 2. Oktober 1990, erklingt die Neunte im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt beim letzten Staatsakt der DDR. Es dirigiert Kurt Masur.

7. Was die Neunte mit der Länge der CD zu tun hat

Auf eine CD passen klassischerweise 74 Minuten Musik. Auch das, man denkt es sich schon fast, soll auf die Neunte von Beethoven zurückgehen.

Der studierte Dirigent und Opernsänger Norio Oga war ab Mitte der 1970er-Jahre Vize-Präsident der Technikfirma Sony. Gemäß einer bekannten Anekdote wollte er im Zuge der Entwicklung der CD seiner Frau den Wunsch erfüllen, die 9. Sinfonie komplett auf einer Scheibe hören zu können.

Man habe sich deshalb dazu entschieden, die längste bekannte Aufnahme – Wilhelm Furtwängler mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele 1951 – zur Standardgröße für das neue Medium zu machen. Hätte man die Lieblingsfassung von Ogas Frau genommen, eine Karajan-Einspielung, wäre das Fassungsvermögen wahrscheinlich acht Minuten kürzer ausgefallen.

Forum Freude schöner Götterfunken – Was macht Europas Hymne aus?

Gregor Papsch diskutiert mit
Dr. Christine Eichel, Autorin und Beethoven-Biografin, Berlin
Prof. Dr. Albrecht Riethmüller, Musikwissenschaftler, FU Berlin
Prof. Dr. Christine Siegert, Leiterin der Forschungsabteilung am Beethoven-Haus Bonn

Forum SWR Kultur

8. Musikalisches Erbe und Dokumentenerbe

Nach Beethovens Tod am 26. März 1827 geht die handgeschriebene Originalpartitur der Neunten in den Besitz von Beethovens Biograf Anton Schindler über. 1846 verkauft dieser seine Beethoven-Sammlung an die Alte Bibliothek von Berlin. Einige Seiten hatte er zuvor nach Paris und London verkauft, sie befinden sich heute in der Pariser Nationalbibliothek und im Beethoven-Haus in Bonn.

Autograph von Beethovens 9. Sinfonie
Freude, schöner Götterfunken: So verzeichnete Beethoven die berühmten ersten Zeilen des Chores in seiner Partitur. Sie befindet sich heute zum größten Teil in Berlin.

Im Zweiten Weltkrieg wird die Berliner Partitur geteilt und an verschiedenen Orten des Reiches sicher verwahrt. Erst Jahre nach der Wiedervereinigung werden die einzelnen Teile 1997 wieder zusammengeführt. Um die herausragende Bedeutung der Sinfonie zu unterstreichen, nimmt die UNESCO das Berliner Autograph 2001 ins Weltdokumentenerbe auf.

9. Hymne des vereinigten Europas

Alle Menschen werden Brüder – Die Botschaft des Finalchores der Sinfonie ist universell. Doch kann ein Werk mit einer so bewegten und so national geprägten Geschichte für einen Mehrstaatenbund wie die Europäische Union stehen? Sie kann!

Herbert von Karajan beim Dirigieren der Neunten Sinfonie
Herbert von Karajan zählt bis heute zu den großen Beethoven-Dirigenten. Im Auftrag des Europarats fertigt er die Arrangements der Europahymne an.

Schon in den 1950er-Jahren gibt es Stimmen, die Beethovens Neunte als europäische Hymne ins Gespräch bringen. 1972 wird die Melodie des Schlusschores zur offiziellen Hymne des Europarats – aufgrund der Vielsprachigkeit des Bundes ohne Text.

Im Auftrag des Rates arrangiert Herbert von Karajan drei Fassungen der Hymne für Klavier, Bläsergruppe und volles Orchester. Diese Karajan-Fassung wird auch 1985 offiziell zur Hymne der Europäischen Gemeinschaft, der Vorgängerorganisation der heutigen Europäischen Union.

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Bei aller Liebe zu Beethoven gibt es heute auch kritische Stimmen zum Werk – zu stark historisch aufgeladen, zu wenig divers. Gerade auch aufgrund von Karajans Rolle im Künstlersystem der Nationalsozialisten häuft sich die Kritik daran, dass ausgerechnet Karajans Fassung bis in unsere Tage Bestand hat.

Trotz alledem: Die Neunte ist der Soundtrack der Europäischen Union und damit der Idee eines Bundes, der auf der Gleichberechtigung der Nationen fußt. Ganz im Sinne des Komponisten: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“

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