Seinen jüngeren Bruder Said Nesar verliert Said Etris Hashemi bei dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Er selbst überlebt nur knapp, aber das Attentat verändert sein Leben. Darüber und über die Folgen schreibt er in seinem ergreifenden Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“.
Triggerwarnung zu Beginn: Bitte sei achtsam bei der Lektüre!
Das Buch beginnt mit einer Triggerwarnung: „Bitte sei achtsam bei der Lektüre“. Zurecht: Es wird sehr explizit und schmerzhaft. Es rührt einen zu Tränen, wie der Autor Said Etris Hashemi seinen jüngeren Bruder verliert. Ein kurzes Leben lang teilen sie ein Zimmer – und dann am 19. Februar 2020 fast auch den Tod. Der große Bruder überlebt den Anschlag in Hanau knapp, der kleine stirbt neben ihm. Seit diesem Tag vor vier Jahren glaubt Hashemi, er trage Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder passiert.
Die Hinterbliebenen, auch Hashemi, haben Aufklärung vorangetrieben
Minutiös, fast geduldig trägt Hashemi alles zusammen, was längst bekannt ist: Wie überfordert die Polizei in der Tatnacht agierte. Dass der Notruf nicht ausreichend besetzt war.
Dass alle fünf Personen an einem Tatort, der Arena Bar, mit großer Wahrscheinlichkeit überlebt hätten, wenn der Notausgang offen gewesen wäre. Wir wissen das, können von Behördenversagen sprechen - weil die Hinterbliebenen die Aufklärung vorangetrieben haben, sie wurden zur eigenen Lobby.
Botschafter für Antirassismus – Dem Anschlag einen Sinn geben
Dass daran keine Zweifel mehr bestehen, ist ein Erfolg. Die Ungerechtigkeit schreit dennoch zum Himmel. Wie geht man damit um? Hashemi lebt ein neues Leben.
Er ist zum Botschafter von Antirassismus geworden, spricht im Bundestag, in Ausschüssen, auf Demos. Musste seine Angst, vor vielen Menschen aufzutreten, ablegen. Der Anschlag sollte einen Sinn haben.
Gesellschaftsanalyse statt Opfergeschichte
Sein neues Leben in der Öffentlichkeit ist keine Opfergeschichte, das hier ist eine scharfe Gesellschaftsanalyse. Warum gibt es kein unabhängiges Kontrollorgan, das die Polizei überwacht? – fragt er zurecht.
Und er schafft es, dabei den Humor nicht zu verlieren. Stellt sich vor, wie ihm sein verstorbener Bruder zynische Kommentare ins Ohr flüstert: zum Beispiel über die Arena Bar „Wallah, verfluchter Ort“.
Migrantenkinder haben alle einen Knacks
Das Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ geht aber weit über den Anschlag hinaus: Hashemi erzählt davon, wie es ist, als „Migrantenkind" in Deutschland aufzuwachsen, in seinem Fall in einem Block in Kesselstadt, einem „Problembezirk“, wie es Polizei und Politik nennen.
„Irgendwie haben wir ja alle einen Knacks“, meint der 1,90 Meter große Sohn afghanischer Geflüchteter: Textstelle: „Ich fühle mich konstant wie unter Strom, obwohl mich die meisten von außen als „sanften Riesen“ wahrnehmen. Immer bedacht. Immer vorsichtig, um nicht das Falsche zu sagen, keine Angriffsfläche zu bieten und vor allem keine Angst auszulösen ...“
„Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“
Alltagsrassismus. Das Gefühl, beweisen zu müssen, dass man zu „den Guten“ gehört. Die Sehnsucht sozial aufzusteigen. Diese Stimme sollten alle hören.
Am Ende zitiert Hashemi ein Opfer des Anschlags, seinen Jugendfreund Ferhat Unvar: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Dieses Buch ist ein wichtiges Zeugnis gegen das Vergessen.
Der rechtsterroristische Anschlag in Hanau
Vier Jahre nach dem rechtsterroristischen Anschlag Oberbürgermeister von Hanau: Die Menschen haben endlich erkannt, dass sie gegen Rechts aufstehen müssen
Im hessischen Hanau wird an den rassistischen Anschlag vor vier Jahren erinnert. Die Demonstration vom vergangenen Samstag habe das Gefühl vermittelt, es sei „ein Funke übergesprungen“, so Oberbürgermeister Claus Kaminsky mit Blick auf die bundesweiten Kundgebungen gegen Rechtsextremismus in SWR2.
Vier Jahre nach dem Anschlag Mein Bruder, das Mordopfer – Çetin Gültekin über sein Buch zu den Morden in Hanau
Çetin Gültekin hat ein Buch über seinen Bruder Gökhan geschrieben, der bei der rassistischen Mordserie von Hanau im Februar 2020 unter den Opfern war. Im Gespräch mit SWR2 beklagt er, dass die Behörden die Angehörigen der Opfer damals nicht informiert hatten und zeigt sich skeptisch, ob Deutschland Lehren gezogen hat aus dem Geschehen.