Erzählt wie ein Psychothriller mit verrätselten Hinweisen

Drei Perspektiven auf die Wahrheit: „Die Unschuld“ von Hirokazu Kore-eda

Stand
Autor/in
Julia Haungs
Julia Haungs, Autorin  und Redakteurin, SWR Kultur

In den Filmen des Japaners Hirokazu Kore-eda geht es oft um komplizierte Familienbeziehungen und vor allem um die Welt von Kindern. Auch sein neuester Film „Die Unschuld“, im Original „Monster“, handelt von Familie und davon, dass Dinge oft ganz anders sind als sie auf den ersten Blick wirken. Kore-eda erzählt die Geschichte aus drei Perspektiven: der einer Mutter, der ihres Sohns und der seines Lehrers.

Wer ist das Monster?

„Wer ist das Monster?“– diese Frage taucht im Film immer wieder auf. Und aus jeder Perspektive ist die Antwort eine andere. Ist der vermeintlich gewalttätige Lehrer das Monster? Sind es überfürsorgliche Eltern? Oder machen sich die Kinder gegenseitig den Klassenraum zur Hölle?

Zunächst erzählt Regisseur Hirokazu Kore-eda seine Geschichte aus der Sicht einer Mutter. Als ihr Sohn Minato sagt, sein Lehrer habe ihn beschimpft und geschlagen, wird sie in der Schule vorstellig. Sie konfrontiert den Lehrer und die Direktorin mit den Vorwürfen ihres Sohns. Doch statt darauf einzugehen, versteckt sich die Schule hinter Floskeln.

 

Eine Aufklärung wird durch die japanische Höflichkeitskultur verhindert

Die Szene ist ein schmerzhaft komischer Höhepunkt des Films. Sie karikiert die Auswüchse der japanischen Höflichkeitskultur, die das Zeigen von Emotionen verbietet. Überbordend demütige Entschuldigungsgesten ersetzen eine ehrliche Diskussion und verhindern, dass sich aufklären lässt, was eigentlich passiert ist. 

Nach 40 Minuten beginnt die Geschichte wieder von vorne, dieses Mal aus der Sicht des beschuldigten Lehrers. Schnell wird klar, dass der umstrittene Vorfall anders abgelaufen ist.

Die Sicht auf die Dinge verändert sich schon bald

Der zehnjährige Minato erscheint plötzlich weniger als Opfer denn als Täter, der seinen Klassenkameraden Yori gemobbt haben soll. Wenn die Geschichte ein drittes Mal aus Sicht des Sohns abläuft, zeigt sich, dass auch die Wahrnehmung des Lehrers nur einen Bruchteil der Wahrheit umfasst.

Denn die beiden Außenseiter Minato und Yori verbindet eine komplizierte Beziehung.

Geschichte wie ein Psychothriller mit verrätselten Hinweisen

Die Suche nach der Wahrheit und das Aufeinandertreffen verschiedener Perspektiven auf sie hat Kore-eda auch schon in seinem Film „Die Wahrheit“ beschäftigt. Während darin ein Mutter-Tochter-Gespann um die Deutungshoheit ringt, ist das Geflecht der Blickwinkel in „Die Unschuld“ noch sehr viel dichter.

Das Drehbuch entfaltet die Geschichte wie einen Psychothriller mit verrätselten Hinweisen, die mehrfach alles in neuem Licht erscheinen lassen. Für das Kinopublikum eine interessante Erfahrung. Mit jedem neuen Bruchstück muss es die eigene Wahrnehmung anpassen und vorschnelle Urteile hinterfragen. 

Was tatsächlich passiert ist

Die letzte Episode, die aufklärt, was tatsächlich passiert ist, lässt die Mystery-Elemente schließlich hinter sich und widmet sich ganz den Kindern. Hier ist der Humanist Kore-eda in seinem Element.

Unterlegt mit der Musik Ryuichi Sakamotos erzählt der Regisseur voller Empathie, wie sich die beiden Jungen in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon ihre eigene Welt bauen.

Das Monster ist ... die Gesellschaft der Erwachsenen

Die Vision eines Neustarts ist die hoffnungsvolle Botschaft von „Die Unschuld“. Denn die Gesellschaft der Erwachsenen, die sich mit ihren selbst auferlegten Zwängen Glück und Menschlichkeit versagt – sie entpuppt sich in diesem Film als das eigentliche Monster.

Trailer „Die Unschuld“ von Hirokazu Kore-eda, Kinostart am 21. März 2024

DIE UNSCHULD Trailer German Deutsch (2024)

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