„Verzweiflungstat der Bahn“: Milliardenprojekt Stuttgart 21 verzögert - bundesweite Folgen

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Bernhard Seiler
Bernhard Seiler steht im Gang eines SWR-Gebäudes.

Aus Stuttgart 21 wird, wenn es gut läuft, Stuttgart 26 – denn das pannengeplagte Milliardenprojekt der Bahn geht nicht wie bisher gedacht Ende 2025, sondern erst im Dezember 2026 in Betrieb. Das hat die Deutsche Bahn nach einer Sitzung mit den Projektpartnern offiziell bestätigt. Die Verzögerung wird Folgen haben für den gesamten Bahnverkehr in Deutschland - und auch für internationale Verbindungen. Warum SWR-Aktuell-Bahnexperte Frieder Kümmerer den angekündigten Testbetrieb im Alltags-Verkehr für eine „Verzweiflungstat der Deutschen Bahn“ hält, erklärt er im Gespräch mit Bernhard Seiler.

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SWR Aktuell: Die Geschichte von Stuttgart 21 ist ja so eine Art „never ending story“. Es gibt regelmäßig Neuigkeiten, dass es teurer oder später wird - oder beides. An welcher Stelle hakt es denn diesmal?

Frieder Kümmerer: Es hakt an einer Sache, die schon tatsächlich auch ein bisschen absehbar war. Auch wir im SWR haben schon immer wieder darüber berichtet. Es ist diese neue digitale Technik, die in dem kompletten Tiefbahnhof und auch in dem kompletten Bahnknoten verbaut wird und verbaut werden soll. Das System „European Train Control System“ soll eigentlich den Bahnverkehr einmal vereinfachen, vereinheitlichen, in ganz Europa internationalen Zugverkehr überhaupt ermöglichen. Das kommt jetzt dieses große „Aber“: Es ist noch gar nicht so ertestet und erprobt, wie man es vielleicht bräuchte, um das auch mal in einen ganzen Bahnknoten zu verbauen. Auf einzelnen Strecken, wie zum Beispiel auf der Strecke Wendlingen-Ulm oder auch auf der Strecke München-Berlin, da ist das System schon verbaut. Aber das sind Strecken, wo halt nur Züge von A nach B fahren, das ist kein komplexer Bahnknoten, wo es Über-Kreuz-Verkehr geht, wo Züge wenden müssen, wo komplexer Zugverkehr ist, wo pro Tag um die tausend Züge durchgelotst werden müssen. Da hat man sich überschätzt, das hat die Bahn durchaus auch zugegeben - und sie hat das gesamte Konzept, wie man Stuttgart 21 eigentlich mal eröffnen wollte, komplett über den Haufen geworfen. Nun hat sie ein neues Testverfahren einer neuen Testbetrieb entwickelt, damit man dann ein Jahr später, im Dezember 2026, dann hoffentlich diesen Bahnhof in Betrieb nehmen kann.

SWR Aktuell: Für Ende 2026 ist der offizielle Start geplant. Ein Jahr vorher beginnt eine Testphase, in der auch schon Fahrgäste den neuen Tiefbahnhof ausprobieren sollen. Wie genau soll das denn funktionieren?

Kümmerer: Das ist tatsächlich ein Kuriosum. Sowas hat es in dieser Form bei der Bahn noch nicht gegeben, dass die Eröffnung noch nicht gewesen ist, dass aber trotzdem schon Fahrgäste in den neuen Tiefbahnhof oder in die neue Infrastruktur mit eingebunden werden. Das ist, tatsächlich ein Testbetrieb auf dem Rücken der Fahrgäste - ganz einfach deswegen, weil man dieses komplexe System peu á peu testen muss. Man braucht die Züge, man braucht die Lokführer, die kann man gar nicht aus dem regulären Bahnbetrieb einfach mal kurz herauslösen. Dementsprechend bindet man einfach reguläre Züge ein Stück weit mit ein, das hat die Bahn so durchaus auch angedeutet. Das heißt, die Fahrgäste erfahren vorher: Heute oder morgen früh fährt ihr Zug nicht wie sonst immer vom Kopfbahnhof, diesmal fährt er aus dem Tiefbahnhof. Und vielleicht können die Fahrgäste dann womöglich auch schon gleich live miterleben, wenn es erste Probleme in diesen Testphasen gibt.

SWR Aktuell: Der Bahnverkehr ist ein extrem komplexes System, in dem alles mit allem zusammenhängt. Dass man die Eröffnung jetzt um genau ein Jahr verschiebt, hängt auch mit dem Fahrplanwechsel zusammen, der immer im Dezember stattfindet. Spätestens 18 Monate vor Beginn des neuen Fahrplans muss die Bahn entschieden haben, ob und wie S21 in Betrieb geht. Ist dieser lange Vorlauf also dieser Komplexität geschuldet?

Kümmerer: Nicht nur deswegen. Es hat tatsächlich was auch mit den ganzen Komplex „deutschlandweiter Fahrplan“ zu tun. So ein Bahnhof wirkt sich auf ganz Deutschland aus. Das merkt man auch an den Verspätungen. Ein Zug, der von Stuttgart nach Hamburg fahren soll und verspätet abfährt, der sorgt auch für eine Verspätung für den ICE, der dahinter fährt, der eigentlich von Stuttgart nach Berlin fahren soll. Alles hängt miteinander zusammen. Und diese 18 Monate, das ist so ein gestaffeltes Verfahren. Zuerst muss man den Fernverkehr planen und organisieren, das ist schon relativ komplex. Damit fängt man eben 18 Monate vorher an. Zwölf Monate vorher fängt man dann an, den Regionalverkehr um den Fernverkehr herum zu planen. Das, was man bei Stuttgart 21 immer vergisst, ist der internationale Verkehr, der europäische Verkehr. Den beginnt man eigentlich sogar schon zwei Jahre vorher in Deutschland zu planen.

SWR Aktuell: Sie berichten für den SWR schon seit Jahren über Stuttgart21. Glauben Sie denn, dass Dezember 2026 nun wirklich der Termin ist, dass es dann wirklich klappen wird?

Kümmerer: Das ist der legendäre „Blick in die Glaskugel“… Also: Auch auf der Pressekonferenz war die Deutsche Bahn die einzige, die überzeugt davon war, dass sie es auch wirklich schaffen wird. Auch die Projektpartner, wie das Verkehrsministerium und die Stadt Stuttgart haben da ein bisschen skeptisch drauf geblickt. Und auch ich muss natürlich sagen, die Geschichte von Stuttgart 21 lehrt natürlich, dass man da skeptisch bleiben muss. Und dementsprechend. Wer weiß, was bis dahin noch alles passieren kann. Dieser Testbetrieb, dieses Verfahren, was man jetzt wählt, das ist eine Verzweiflungstat der Bahn, das wenigstens mindestens ein Jahr später irgendwie hinzukriegen. Und dementsprechend schaue ich eher skeptisch als optimistisch auf Dezember 2026. Wir können, glaube ich, gespannt sein.