Immer mehr Kindern und Jugendlichen geht es aufgrund der Pandemie psychisch schlecht, viele brauchen akut Hilfe. Viele Psychiatrien sind derzeit aber sehr voll. Müssen sie wirklich auswählen, wen sie behandeln?
Auch die 14-jährige Klara aus dem hier veröffentlichten Video wartet schon sehr lange auf einen passenden Platz in einer Jugendpsychiatrie. Während der Pandemie verschlechterte sich ihre Depression. Sie brauche dringend Hilfe, sagt sie.
Weil immer mehr Kinder akut Hilfe bräuchten, sei das System aber massiv überlastet, warnt Jakob Maske, Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er löste kürzlich einen Mediensturm aus, weil er sagte, dass die Triage mittlerweile auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrien angewandt werde.
Was ist Triage?
Triage ist eigentlich ein Begriff, der aus der Notfallmedizin stammt. Wenn sehr viele Verletzte gleichzeitig kommen, müssen die Ärzte und Ärztinnen nach bestimmten Kriterien entscheiden, wer prioritär behandelt wird und wer noch etwas warten kann, ohne davon Nachteile zu tragen. Das geschieht aber unter der Voraussetzung, dass alle irgendwann behandelt werden.
Kinder und Jugendpsychiatrien sind überlastet
Laut einer bundesweiten Studie sind mittlerweile fast ein Drittel der Kinder coronabedingt psychisch auffällig. Viele zeigten depressive Störungen oder litten unter Ängsten.
Das sei keine Kritik an den Ärzten, die leisteten hervorragende Arbeit, betont Kinderarzt Maske. Das zeige nur, dass mittlerweile sehr genau hingeschaut werden müsse, wer wann behandelt werde. Und darin sehe er eine große Gefahr. Wenn keine zeitnahe Therapie erfolge, könnten sich psychiatrische Symptome zu Krankheiten entwickeln, sagt Maske.
Lange Wartezeiten
Auch Christian Fleischhaker, kommissarischer ärztlicher Direktor der Freiburger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, bestätigt einen enormen Anstieg der Patienten, sodass eine „Auswahl“ getroffen werden müsse:
Mehr psychiatrische Notfallpatienten
Offizielle Zahlen, wie belastet die Kinder- und Jugendpsychiatrien derzeit in Deutschland sind, gibt es allerdings nicht. Doch die Nachfrage bei vielen Kliniken deutschlandweit lassen das Ausmaß erahnen. Viele geben an, dass die Anzahl der Notfallpatienten seit Beginn der Pandemie gestiegen sei. Dass sie zum Teil sehr lange Wartezeiten hätten. Dass bereits vor der Pandemie die Auslastung groß gewesen sei.
Müssen die Psychiatrien auswählen, wen sie behandeln?
Alle befragten Kliniken betonten aber, dass akut gefährdete Kinder nicht weggeschickt würden:
Prof. Tobias Renner, Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie, spricht damit für viele seiner Kollegen und Kolleginnen. Damit die Notfallversorgung garantiert bleibt, arbeiten viele Kliniken aber an und über der Belastungsgrenze. In Tübingen würden derzeit erheblich mehr Patienten versorgt, als die Klinikkapazität vorsehe, so Prof. Renner. Nur die Mehrarbeit der Mitarbeiter mache das möglich.
Auch die deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie widerspricht der „Triage“ vehement. Der Begriff aus dem Kriegsrecht sei nicht angemessen. Es gebe zwar durchaus schwierige Engpässe, aber die seien gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bereits früher da gewesen und jetzt durch die Pandemie nur noch verstärkt worden. Akut gefährdete Kinder würden aber auf keinen Fall abgelehnt.
Lange Wartezeiten auch bei Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche
Auch in die ambulante psychotherapeutische Behandlung könnten die psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen nur selten vermittelt werden. Dort sei es schon vor Corona schwierig gewesen, Kinder und Jugendliche unterzubringen. Und es seien in der Pandemie keine neuen Plätze geschaffen worden.
Hausärzte behandeln vermehrt psychische Symptome
Was bleibt, ist die Behandlung beim Kinderarzt. Kinder- und Jugendarzt Till Reckert aus Reutlingen schildert, dass in seine Praxis während der Pandemie viele Kinder und Jugendliche kämen, die statt an den üblichen Infekten an psychischen Symptomen litten:
Alle Altersgruppen sind betroffen
Dabei falle keine Altersgruppe besonders auf. Unter den Betroffenen seien genauso Kitakinder wie Schulkinder und Teenager. Auffällig sei dagegen:
Das sortiere sich mehr entlang der gesellschaftlichen Schichten. Die Kinder und Jugendlichen, die ohnehin schon Probleme hatten, seien durch die Pandemie auch noch stärker betroffen. Doch wenn jetzt ein Kind komme, das schwer depressiv sei, habe Till Reckert oft keine Möglichkeit, es zeitnah unterzubringen:
Mehr Beachtung für die Bedürfnisse von Heranwachsenden
Die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendliche müsse auch politisch mehr in den Fokus gerückt werden. Das sei bislang viel zu wenig getan worden. Klaas van Aaken, Chefarzt in der Jugendpsychiatrie im Klinikum am Weisenhof in Weinsberg, ist deswegen sehr besorgt und fordert eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen während der Pandemie: