Über geschlechtsspezifische Medizin ist in Deutschland immer noch sehr wenig bekannt. Dabei gibt es auch bei Covid-19 und den Corona-Impfungen Unterschiede. Ein Interview mit Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für geschlechtersensible Medizin an der Uni Bielefeld:
Ein Herzinfarkt äußert sich bei Männern häufig mit stechenden Schmerzen im Brustkorb. Bei Frauen sind die Symptome oft vielfältiger und können Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch und Kurzatmigkeit einschließen. Mittlerweile ist auch bekannt, dass Frauen ab den Wechseljahren häufiger von Diabetes, Arthritis oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen sind.
Bei Covid-19 erkranken Männer häufiger schwer und müssen deutlich häufiger als Frauen wegen einer Coronavirus-Infektion auf die Intensivstation. Selbst bei der Corona-Impfung gibt es Unterschiede bei den Nebenwirkungen.
Warum erkranken Männer schwerer an Covid-19 als Frauen? Was sind die Gründe?
Das eine sind biologische Unterschiede, die eine Rolle spielen können. Das andere sind soziale Risikofaktoren. Was die biologischen Unterschiede angeht, kann es zu Unterschieden in der Immunantwort kommen. Wir wissen, dass Frauen bei der akuten Infektionen etwas besser reagieren, allerdings könnte das langfristig ein Risiko für Long Covid sein.
Die zweite Ebene sind die sozialen Risikofaktoren. Wir wissen, dass weltweit Männer immer noch häufiger rauchen, häufiger auch mit Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen, an Covid-19 erkranken. Letztendlich haben sie also potenziell schlechteren Ausgangspunkt für Covid-19.
Sterben mehr Männer an den Folgen von Corona?
Was die akuten Infektionen angeht, ja. Da sind die Daten weltweit einstimmig. Mit was wir uns jedoch langfristig beschäftigen müssen, sind die Langzeitfolgen von Covid-19. Also Symptome, die über längere Zeit bleiben und die nicht zum Tod führen, aber tatsächlich doch das Leben der Menschen beeinträchtigen. Und da kann es sein, dass wir es nicht so sehr bei Männern sehen, sondern dass Frauen etwas mehr betroffen sind.
Laut Daten erkranken Frauen häufiger als Männer an Long Covid. Gibt es da schon mögliche Ursachen?
Wir vermuten, dass es mit der Immunantwort zu tun hat, die eben einerseits hilfreich ist, was die akute Infektion angeht. Es gibt aber dann den Übergang in die postakute Phase also, wenn sozusagen eigentlich die erste Infektion vorbei ist. Und das Risiko, dass nicht die Infektion selber, sondern die Entzündung chronisch wird, ist bei Frauen etwas höher als bei Männern.
Bereits bei anderen Viruserkrankungen in der Vergangenheit konnten wir das sehen. Und wir gehen davon aus, dass es da sehr wahrscheinlich ein ähnlicher Mechanismus ist, dass es letztendlich fast zu einer Autoimmunreaktion wird. Doch über die kurze Zeit können wir das noch nicht eindeutig sagen.
Gibt es schon unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten für Männer und Frauen?
Was die akute Infektion angeht, da sind Arzneimittel, die wir einnehmen sowohl für Männer als auch für Frauen zu gebrauchen. Und auch hilfreich und zum Teil ist es natürlich auch eine unterstützende Therapie, über die dann individuell entschieden werden muss, je nachdem, was gerade die Symptomatik ist.
Wenn es um die Langzeitfolgen geht, ist es noch eine offene Diskussion. Es scheint verschiedene Formen der Langzeitsymptome zu geben, also welche, die tatsächlich mit einer starken Infektion zu tun haben und wo es letztendlich mit einer "normalen Reha" die Symptome lindert.
Es scheint aber auch die Fälle zu geben, die eventuell in so ein chronisches Fatigue-Syndrom übergehen. Da ist die Frage nach der Therapie tatsächlich sehr offen. Denn bisher haben wir noch keine sehr guten Interventionsmöglichkeiten.
Liegt es daran, dass das Krankheitsbild "Long Covid" noch sehr diffus ist?
Einerseits das - auf der anderen Seite gab es das chronische Fatigue-Syndrom schon länger. Das haben wir ja auch bei anderen Erkrankungen gesehen. Doch selbst da bietet uns die Forschung zurzeit nur bedingt Lösungen an. Da muss noch sehr viel gemacht werden. In Bezug auf die Therapie haben wir noch kein gutes Arsenal, was uns zur Verfügung steht.
Wie sehen die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Corona-Impfungen aus?
Bei den Impfungen haben wir einerseits die ganz akuten Reaktionen - also meistens eine allergische Reaktion. Da wissen wir von anderen Impfungen, dass das Risiko bei Frauen etwas höher ist als bei Männern. Dies hat sich auch bei der Corona-Impfung bestätigt. Der Fall kommt sehr selten vor, kann sehr gut therapiert werden und alle Impfzentren sind darauf vorbereitet. Das ist die weniger relevante langfristig gesehene Reaktion.
Wir hatten dann Unterschiede gesehen, was zwei Kategorien anging. Einerseits waren es die Thrombosen, die am Astrazeneca-Impfstoff beschrieben worden sind. Anfänglich schien es vor allem ein Problem zu sein, was Frauen betroffen hat. Das ist auch immer noch so, doch es liegen auch immer mehr Daten zu betroffenen Männern vor.
Die zweite Ebene sind Herzbeutelentzündungen, die bei den mRNA-Impfstoffen beschrieben worden sind. Das wurde vor allem bei jungen Männern bestätigt. Deshalb wurde zum Beispiel auch der Moderna-Impfstoff, der in einer höheren Dosis verabreicht wird als Pfizer, bei jungen Männern in vielen Ländern nicht mehr empfohlen.
Warum fristet die geschlechterspezifische Medizin in Deutschland trotzdem ein Schattendasein?
Das ist nicht nur in Deutschland der Fall, sondern ein internationales Phänomen. Allerdings ist es in Deutschland jetzt vielleicht ein bisschen später noch als in Kanada oder den Niederlanden. Dennoch hat die geschlechterspezifische Medizin in den letzen fünf bis zehn Jahren doch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Was wir zum Teil wirklich brauchen, sind die guten großen Studien, die uns eindeutig sagen: Welche Arzneimittel müssen wie angepasst werden? Wo müssen wir genau unsere diagnostischen Verfahren anpassen? Wir haben häufig doch sehr gute vorläufige Daten, die uns auch bei der einen oder anderen Krankheit sagen: Da können wir in eine bestimmte Richtung anpassen.
Was uns fehlt ist Zeit und Geld, um Studien durchzuführen, die uns ganz klar sagen: In diesem Fall muss genau diese Anpassung vorgenommen werden. Diese Leitlinie für diese bestimmte Erkrankung - sei es Diabetes oder Osteoporose - musst so und so angepasst werden, damit wir geschlechtersensibel therapieren können.
Dass dies geschieht, ist auch die Hoffnung für die nächsten fünf bis zehn Jahre.