Es wird gejubelt, gesungen, geweint und geflucht: Deutschland ist im sprichwörtlichen Fußball-Fieber. Die Emotionen der Fans sind dabei stark von ihrer sozialen Umgebung abhängig.
Deutschland ist im sprichwörtlichen Fußball-Fieber. Und das ist manchmal sogar ansteckend: Egal, ob zu Hause, im Stadion oder beim Public Viewing: Ein Fußballspiel zu schauen ist oft ein soziales Event. Das Gemeinschaftsgefühl gehört schließlich zur Fankultur dazu.
Fußball zusammen schauen fördert das Gemeinschaftsgefühl
Eine Studie zum Verhalten der Fans von Hertha BSC und des Hamburger Amateurclubs HFC Falke ergab, dass durch das gemeinsame Schauen eines Fußballspiels ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit entsteht. Zuschauer weisen nahezu synchrone Verhaltensweisen auf, was sich beispielsweise im gemeinsamen Jubeln zeigt. Dieses Verhalten schafft eine Form der gegenseitigen Bestätigung. Emotionen beim Fußball sind somit ein Treiber für soziale Prozesse und fördern das Gemeinschaftsgefühl.
Eine Studie zum Emotionserleben während der Europameisterschaft 2016 kam bereits zu ähnlichen Erkenntnissen: Nur rund ein Viertel der Befragten schaute die Fußballspiele allein. Die Mehrheit der Zuschauer verfolgt die Spiele in größeren Gruppen und nutzt die Gelegenheit, um Freunde und Bekannte zu treffen. Das wirkt sich auch auf ihre Emotionen aus: Sie werden intensiver erlebt, wenn das Spiel an öffentlichen Orten oder in Gesellschaft von mindestens fünf Personen verfolgt wird.
Ansteckende Emotionen: Sogwirkung reißt auch andere mit
Die EM reißt auch Menschen mit, die sonst wenig Fußball schauen: Wenn Menschen zusammen sind und ihre Handlungen wie bei einem Ritual auf starke Symbole richten, spreche man in der Soziologie von einer kollektiven Efferveszenz, erklärt der Soziologe Jochem Kotthaus. Der Begriff Efferveszenz stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Erregung oder Aufbrausen. Große Emotionen werden also gemeinschaftlich erlebt.
Kotthaus lehrt an der FH Dortmund und untersucht seit fast 15 Jahren den professionellen Sport aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Aufgrund der starken Körperlichkeit entsteht laut Kotthaus insbesondere im Stadion eine Art Sogwirkung: „Abstand bricht zusammen, Menschen liegen sich in den Armen. Das führt zu einer Gemeinschaft und das dann wiederum zu mehr Emotionalität. Es ist sozusagen eine Kette oder ein Zirkel”, beschreibt Kotthaus.
Echte Fans haben erhöhtes gesundheitliches Risiko
Wenn wir solch starke Emotionen erleben, bedeutet das auch Stress für unseren Körper. Die Studie eines internationalen Forschungsteams untersuchte brasilianische Fans während der Siege und Niederlagen bei der WM 2014. Die Studie zeigte, dass die Konzentration des Stresshormons Kortisol im Laufe eines Fußballspiels ansteigt.
Zuschauer, die sich stark mit ihrer Mannschaft und den anderen Fans verbunden fühlen, erlebten den größten Anstieg. Besonders deutlich zeigte sich der Anstieg des Hormons bei Niederlagen der bevorzugten Mannschaft.
Ein Fan zu sein könnte laut Studien sogar gefährlich werden: Starke Emotionen und psychischer Stress können nämlich zu Herzinfarkten und Herzrhythmusstörungen führen. Es gibt Hinweise darauf, dass besonders leidenschaftliche Fans ein erhöhtes Risiko haben, Herzstörungen zu erleiden. Dies gilt vor allem für Personen mit einer Vorgeschichte von koronarer Herzkrankheit.
Gewaltbereitschaft steigt
Doch warum verhalten sich manche Fans sogar aggressiv? Immer wieder gibt es Berichte über gewalttätige Fans. Eine aktuelle Untersuchung aus England zeigt zudem, dass während großer Fußballspiele auch die Fälle häuslicher Gewalt zunehmen. In diesem Zusammenhang legen unveröffentlichte Daten eines chilenischen Forschungsteams nahe, dass sich die Gehirnaktivitäten von Fans rivalisierender Fußballmannschaften verändern - je nachdem, ob ihr bevorzugtes Team gewinnt oder verliert:
Bei einem Sieg wird das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert, was zu Freude führt. Verliert jedoch das bevorzugte Team, wird unter anderem der Teil des Gehirns gehemmt, der für die Verhaltenskontrolle zuständig ist. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von gewalttätigem Verhalten. Dabei stieg das Gewaltpotenzial insbesondere dann, wenn sich Fans zu stark mit ihrer Mannschaft identifizieren und in Gruppen unterwegs sind.
Natürlich wird nicht jeder Fan gewalttätig. Verschiedene Lebensumstände und intensiver Alkoholkonsum fördern die Gewaltbereitschaft. Die englischen Daten zeigen, dass besonders der erhöhte Alkoholkonsum während Fußballspielen zu mehr häuslicher Gewalt führt.
Keine nachhaltige Bindung an die Nationalmannschaft
Die EM hat eine Besonderheit: Der Hype konzentriert sich bei Nationalmannschaften auf eine begrenzte Zeit. Der Sportwissenschaftler Harald Lange von der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg beschreibt im Interview mit tagesschau24, dass sich die deutsche Fankultur in diesem Punkt von der anderer Länder unterscheidet: „Das ist in anderen Ländern, Stichwort Schottland, Stichwort Holland, aber auch Stichwort England ganz anders“.
Die Deutschen seien weniger leidensfähig als beispielsweise die Schotten: „Die wissen ganz genau, sie kommen nicht viel weiter als in diese Vorrunde, dann müssen sie wieder nach Hause fahren und dennoch leiden die Fans auch im Falle der Niederlage mit und stehen zu ihrem Team.” Auch bei der Bundesliga seien die Menschen stärker an die Vereine gebunden, selbst wenn die Mannschaften schlecht abschneiden.
Bei der EM dagegen handle es sich mehr um das Event und um Unterhaltungsaspekte als um die tatsächliche Mannschaft, so Lange, sodass nicht von einer leidenschaftlichen Fußballmentalität gesprochen werden könne. Noch ist die deutsche Nationalmannschaft aber mit im Rennen – also heißt es weiterhin: Mitfiebern und Stimmung genießen.
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