Wer Radio macht, hat‘s nicht leicht auf Tagungen, Konferenzen, medialen Zukunftspodien. Denn: „Was? Radio? Ah, Dino-Medium!“ Angeblich vom Aussterben bedroht. Überholt. Aus der Mode. „Euch kommt das Publikum abhanden!“ „Meine Kinder hören null Radio!“ Und ja, alle unsere Selbstgewissheiten sind hinüber: Wir sind nicht mehr das schnellste Medium, nicht mehr Musiklieferant Nummer eins, nicht mehr wichtigstes Service-Angebot, nicht mehr familiärstes Medium. Fast alles kriegt das Publikum anderswo schneller, besser, passgenauer - auf Social-Media-Kanälen, über Google, Apps, Streaming-Dienste und Podcastangebote. Sogar unser nobelstes Privileg verlieren wir: Denn Dinge vertonen und hörbar machen, können jetzt alle. Sogar Maschinen. Mit KI, Sprach- und Stimmsynthese. Was also bleibt für uns, fürs (lineare) Radio?
Antwort: Viel! Und vielleicht sogar Besseres als vorher. Denn im Konzert der (auch neuen) Medien wird unsere Aufgabe umso klarer. Und viele Untersuchungen zeigen Stärken unseres Mediums, die wir manchmal vergessen, uns aber die Zukunft weisen. Dazu gehört: Menschen fühlen sich mit Radio wohler als mit jedem anderen Medienangebot. Das zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2020 (Alexander Bohn, Uwe Domke und Jan Isenbart: Eine Studie zum Einfluss emotionaler Bewertungen von Mediengattungen auf die Nutzungsmotive. Die positive Grundstimmung beim Hören von Audio; Link zum PDF). Demnach ist Radio ein „Medium der Wohlgestimmtheit“.
Emotionale Grundstimmung/Wahrnehmung bei der Mediennutzung
Reaktionszeitmeessung in %
Konkret: Radiohören assoziiert der weitaus größte Teil der Menschen mit Begriffen wie Harmonie, Lebensfreude, Geselligkeit, Wohlfühlen. Beim Nutzen anderer Medien denken die Menschen dagegen oft an Disziplin, Aggressivität, Verantwortung. Außerdem gilt: Radio macht als einziges Medium nie ein schlechtes Gewissen. Menschen empfinden es als im guten Sinne unaufdringlichen Alltagsbegleiter. Da haben es andere Mediengattungen deutlich schwerer: Nach Film- und Fernsehabenden plagt das Publikum oft das Gefühl, Zeit verschwendet zu haben. Social-Media-User klagen über Verführung zum „Doom-Scrolling“. Selbst Bücher und Podcasts machen dem Publikum oft zu schaffen. Denn: „Da wär ja noch so viel, was ich lesen und hören sollte!“ Die genannte Untersuchung dagegen zeigt: Das Radio kennt solche Nutzungsschmerzen nicht. Radio ist anstrengungslos beiläufig. Es bedrängt nicht, lenkt nicht ab, spielt sich nicht in den Vordergrund. Heißt: Das, was oft negativ über Radio gesagt wird, ist in Wahrheit seine Stärke. Es ist ein Nebenbeimedium im besten Sinne. Oder anders ausgedrückt: Es ist minimalinvasiv. Und es bietet beim Hören die wunderbare Chance, zu finden, was man gar nicht gesucht hat. Fachleute sprechen von Serendipity und wissen: Genau darin liegt die größte Freude der meisten Menschen. Sie freuen sich über den zufällig auf der Straße gefundenen Euro mehr als über den Payback- Rabatt, den sie aktiv einlösen. Sie freuen sich über den unerwarteten Lieblingshit im Radio mehr als über den selbstausgewählten Song auf der Playlist.
Das alles macht Radio zu einem der beliebtesten Medien. Noch immer. Auch das zeigt die angesprochen Untersuchung (siehe folgende Grafik).
Unverzichtbarkeit der Medien im Vergleich
Frage: "Wenn Sie für eine Woche nur drei Medien nutzen könnten, welche Medien würden Sie dann auswählen?" - Angaben in %
Keine Frage: Die Antworten sind nicht nach Alter aufgeschlüsselt und würde nach einem Medium gefragt, würden junge User garantiert Social Media auf Platz 1 wählen.
Dennoch: Es ist jetzt an uns, das, was Menschen am Radio schätzen, auszuspielen - trotz und gerade wegen der Konkurrenz mit anderen Medien.
Neben der Frage, was das Radio denen bietet, die es hören, müssen wir uns klar machen, warum sie es überhaupt erst einschalten. Und auch da sind die Ergebnisse recht eindeutig (siehe folgende Grafik).
Nutzungsmotive für Audioangebote 2020
Menschen hören Radio, weil es Spaß macht, entspannt und informiert. Wichtig dabei ist: Information meint hier nicht Nachrichten. Als hauptsächliche Nachrichtenquelle nutzen Radio nur sehr wenige, zuletzt nur rund jeder zehnte (siehe PDF, S. 21) – mit nur wenig Schwankung durch alle Altersgruppen. Das ist nicht überraschend, aber bringt es nochmal auf den Punkt: Radio ist kein klassisches Nachrichtenmedium (mehr).
Und doch fühlen wir uns als ehemals schnellstes Medium und durch die Übermacht des Neuigkeitenmarktes getrieben, da mitzuspielen – oft mehr denn je. Der Grund: Wir werden in den Redaktionen dauernd angeflutet von diesen Themen. Weil Medienhäuser umgebaut werden und wurden, weil Newsdesks den Takt angeben und die Echtzeit-Nachrichten auf Twitter, Insta und News-Apps das Tempo vorgeben wie früher die Agenturen. Nur noch krasser.
Radioredaktionen aber, die über die Maßen den schnellen Nachrichten nachgeben als Takt- und Ideengeber für Berichte, Stücke, Beiträge, arbeiten schnell gegen die Wohlfühlnatur und Stärke des Radios. Denn Nachrichten im herkömmlichen Sinn machen immer mehr Menschen Stress und schlechte Laune. Das zeigen Studien wie der Reuters News Report: Die Zahl derer, die Nachrichten mindestens gelegentlich vermeiden, steigt. 2022 waren es schon über 60 Prozent in Deutschland (siehe PDF, S. 14). Die meisten davon finden: Es geht zu viel um Politik und/oder finden vieles unverständlich. Und immer mehr sagen: „Das hat nichts mit meinem Leben zu tun.“
Und genau das kann Radio besser: Das Radio als Alltagsbegleiter, das spricht wie die, die es hören, das seinem Publikum nah ist und es anspricht. Radio, das Medium, das sich auskennt, das Medium, das Menschen in ihr Leben lassen und das deshalb auch die Aufgabe hat, zu liefern, was mit dem Leben zu tun hat. Heißt: Mehr als nur Nachrichten. Und vor allem: nicht nur nachrichtengetrieben. Es kann und muss stattdessen sein: Ein Medium für Gemeinschaft und Lebensgefühl. Es kann Zugehörigkeit schaffen und Wohlbefinden. Es kann Dinge verständlich machen und so erklären, dass sie ganz beiläufig begreifbar werden und zwar auch und gerade die Dinge, die den Menschen in ihrem Alltag begegnen. Das Publikum darf und muss sich wiederfinden im Programm.
Stimmen aus der Region
Radio braucht deshalb zwingend Stimmen aus der Region. Und zwar Stimmen, die die Lebenswelt des Publikums widerspiegeln. Ein Programm, in dem fast ausschließlich Menschen zu Wort kommen, die Ämter innehaben und die sprechen wie gedruckt, erfüllt das nicht. Wichtig ist vielmehr: Betroffene zu Wort kommen lassen, Menschen, die sprechen wie die Mehrzahl des Publikums. Motto: Weniger Statements von Funktionsträgern, mehr Stimmen „einfacher“ Menschen. Schönes Beispiel vom MDR: Nach dem Tarifabschluss für Gebäudereiniger gibt’s in den Nachrichten nicht (nur) das Statement einer Gewerkschaftssprecherin, sondern Stimmen derer, die der Abschluss betrifft – hörbar regional (Hier den Link aufrufen).
Radio braucht auch Reporter und Moderatorinnen, die nah am Publikum sind, die den Charakter ihrer Region kennen und selbst nach ihr klingen. Heißt konkret: Auch eine Reporterin darf einen lokalen Akzent haben. Und kein Moderator sollte ins Schleudern kommen, wenn eine Hörerin mit heimischem Dialekt anruft.
Radio ist wie beschrieben ein Medium der alltäglichen Nähe. Nichts ist schlimmer als abgehoben zu wirken.
Beides zeigt eine Untersuchung des MediaLab Bayern auch für andere Medienangebote. Zur Frage, was Medien beim Publikum glaubwürdig macht, heißt es: „Betroffene sind glaubwürdiger als Berichtende. [Viele Befragte] wünschen sich Authentizität und möchten zum Beispiel Nachrichten direkt und ungefiltert erleben, also live oder zumindest aus erster Hand. Reporter:innen, die von vor Ort berichten, sprechen den Befragten zufolge oft zu sachlich, so als ob sie überhaupt nicht direkt involviert wären […] Dadurch geht die Authentizität teilweise verloren.“ (Hier den Link aufrufen). Für Radio als Medium der Nähe gilt das besonders.
Themen aus der Region
Radio muss deshalb auch vor allem Themen behandeln, die etwas mit der Lebenswirklichkeit der Menschen zu tun haben. Und zwar so konkret und praktisch wie möglich. Heißt: Interessant ist es nicht, was die hiesige Abgeordnete zur abstrakten Artenschutzdebatte in Berlin sagt. Interessant ist, was der Schäfer drei Kilometer weiter tun kann, der schon wieder ein vom Wolf gerissenes Tier auf seiner Weide gefunden hat. Von Interesse ist nicht, welche Partei im Hickhack um das EEG-Gesetz in Berlin verloren und gewonnen hat. Von Interesse ist, was Menschen erwartet, wenn die Gemeinde ein Windrad an die Ortseinfahrt baut.
Und das Radio muss Ohr und Platz haben für die Geschichten, die Gemeinschaft stiften: Für die Bauersfamilie, deren Hof abgebrannt ist, und für die jetzt hunderte spenden. Für die Kleinstadt, in der hunderte Ehrenamtliche sich um tausende Flüchtlinge kümmern. Für die Menschen, die jedes Jahr tausende Kilometer Wanderwege in der Region in Schuss halten. Darüber hinaus darf und soll Radio auch selbst Gemeinschaft stiften. Denn gerade Radio kann das.
Hörerlebnisse schaffen: Live, gemeinsam
Als lineares Live-Medium ist Radio ein soziales Medium im Wortsinn: Es schafft gemeinsame Hörerlebnisse – bis heute und in Altersgruppen und Nutzungsszenarien, die überraschen:
Radioaktionen wie die „SWR3 Grillparty“ und die „SWR1 Hitparade“ sprechen für sich: Hunderttausende machen mit, wollen dabei sein, miterleben, sich als Gemeinschaft erfahren. Dieses Live-Gefühl versuchen Podcastangebote bereits zu kopieren: Wer eine Abo abschließt, darf dort bisweilen die Aufzeichnung miterleben. Das Publikum will live dabei sein. Die Attraktion scheint groß. Das Radio darf sich diese Stärke nicht abkaufen lassen.
Radio muss explizit Live-Medium bleiben oder wieder werden. Verbundenheit mit anderen herzustellen im Hier und Jetzt ist und bleibt eine Stärke des Mediums.
Wenn es dann auch noch ein Mitreden und Mitmachen ermöglicht, ist das perfekt. Dabei helfen neue Tools und Plattformen, die das Publikum ins Programm holen und hörbar machen. Beispiel: Deutschlandfunk. Der Sender nutzt Twitter Spaces, um nach einer Sendung mit dem Publikum zu diskutieren und Teile daraus wieder ins Programm zu holen (Hier den Link aufrufen). Beispiel Radio Bielefeld: Der Sender lädt via Microsoft Teams sein Publikum ein zu Videokonferenzen über wichtige lokale und sendet die Antworten zum Teil wieder im Radio (Hier den Link aufrufen).
In jedem Fall: Kein Grund zu verzweifeln.
Zusammengefasst wird klar: Lineares Radio ist alles andere als tot. Im Gegenteil: Es hat einmalige Stärken als soziales lineares Live- Medium, schafft anstrengungslos Gemeinschaft und minimalinvasiv Nähe. Es kann erzählerisch leicht und alltagsverständlich informieren - ohne Nachrichten-Overkill und Info-Ermüdung. Und die Zahlen weiterer Umfragen legen nahe: Die linearen Radioprogramme haben – im Unterschied zum Fernsehen! - in den vergangenen Jahren kaum an Publikum verloren (siehe folgende Grafiken).
Nutzungsanteile Bewegtbild
Erw. ab 14 J.
Nutzungsanteile Audio
Erw. ab 14 J.
Nutzungsmotive Radiohören 2022
Der Zuspruch ist weitegehend stabil. Und von wegen: „Dino-Medium“ ohne nachwachsendes Publikum: Auch 57 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 hören laut JIM-Studie 2022 täglich oder mehrmals die Woche Radio: „82 Prozent geben an, ‚wegen der Musik‘ Radio zu hören, 61 Prozent ‚um neue Musik kennenzulernen‘. Über die Hälfte nannte aber auch eher Motive der Information wie ‚um auf dem Laufenden zu bleiben‘ (59 %) oder ‚für regionale Informationen‘ (52 %).“ (Hier den Link aufrufen)
Also: Mutig voran. Das Radio lebt!
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