Die ARD feiert im Herbst 2023 „100 Jahre Radio“, und ich gehöre zu denen, die mit der Planung befasst sind. Dabei erlebte ich ein paar Diskussionen, die mich nachdenklich gestimmt haben. Immer wieder begegnete mir die Vorstellung, dass Podcasts und andere Audio-Anwendungen die Zeit des Radios ablösen würden. So als hätten wir bis heute noch das Radio von 1923, doch jetzt brechen ganz andere Zeiten an, die ein neues Label „Audio“ benötigen. Diese Haltung kam oft in der Sorge zum Ausdruck, „100 Jahre Radio“ könne zu einem rückwärtsgewandten „Abgesang“ aufs Radio werden. Bloß nicht historisch werden! Nach vorne gucken – Podcast, Streamingdienste, Voice!
Oft stellte sich dann heraus, dass von der Geschichte des Radios sehr nebulöse Vorstellungen herrschen. Sie beschränken sich oft darauf, dass „die Nazis den Rundfunk missbraucht“ haben. Jetzt verstand ich die Sorge vor „zu viel Geschichte“ schon etwas besser. Dabei sind die großartigen Entwicklungen vorher und nachher eigentlich viel interessanter – und sie führen auch zur Frage, ob wir für das Neue wirklich neue Begriffe brauchen.
Ich beginne in Baden-Baden. Der SWR hat die Adresse „Hans-Bredow-Straße“. Viele dort ansässigen Radioleute laufen diese Straße täglich zur Kantine hinunter und wieder hinauf. Doch vermutlich ist den wenigsten klar, wer dieser Hans Bredow war. Auch im Volontariat wird das nicht vermittelt.
Die Kurzform: Hans Bredow haben wir es zu verdanken, dass wir in diesem Jahr „100 Jahre Radio“ feiern. Er hat den Begriff „Rundfunk“ geprägt – und nach dem Krieg maßgeblich am Aufbau und an der Gestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mitgewirkt.
Die Langform: 1913 reiste Bredow nach New York, um Versuche mit „drahtloser Telefonie“ durchzuführen. Gesendet wurde von einem der ersten Wolkenkratzer, dem Tower Building. Später, im Ersten Weltkrieg, experimentierte Bredow damit und sendete Unterhaltungsprogramme an die Soldaten in den Schützengräben. „Was mich am meisten beeindruckt hat: Dass es zukünftig möglich sein würde, die Einsamkeit aus dem Leben des Menschen zu verbannen“, erinnert sich Bredow später.
Der Krieg spielte auch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle: In Königs Wusterhausen bei Berlin entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Militärfunkstation der Obersten Heeresleitung. Nach dem Krieg 1919 machen die Alliierten sie zum Eigentum der Reichspost, geleitet von Hans Bredow, der zum Ministerialdirektor aufgestiegen war. Die Station wird vor allem dazu genutzt, Pressemeldungen zu telegrafieren, an Schiffe und ins Ausland. Gefunkt werden dort noch Morsezeichen, die in den rund 80 Empfangsstationen erstmal wieder in Texte umgewandelt werden mussten. Hans Bredow gibt den Auftrag, das zu ändern: Aus der Funktelegrafie soll Funktelefonie werden – Sprache soll also direkt übertragen werden.
1920 kam es zur „Ur-Sendung“. Von Königs Wusterhausen aus sendete der Techniker Erich Schwarzkopf am 22. Dezember ein kleines Weihnachtskonzert – und spielte selbst dabei die Geige. Es war auch aber noch kein regulärer, offzieller Rundfunkbetrieb; der begann erst am 29. Oktober 1923 mit den berühmten Worten „Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400!“.
Ansager Friedrich Georg Knöpfe fuhr fort: „Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.“
Quelle: Hans Bredow (SWR 2 Archivradio)
Ja, man brauchte damals zum Radiohören eine Lizenz. Und: Der Rundfunk begann mit Unterhaltung, nicht mit Journalismus.
Gesprochenes Wort war anfangs immer live – auch Hörspiele. Es wurde nicht mitgeschnitten. Deshalb sind aus den ersten Jahren kaum Sendungen archiviert. Mit der Zeit entdeckten die Radiomacher aber die Möglichkeiten des Mediums. 1929 berichtet Alfred Braun von der Beerdigung von Außenminister Stresemann – die älteste erhaltene Live-Reportage. 1932: Das erste Telefon-Interview.
Kaum hatte Hitler per Ermächtigungsgesetz Deutschland in eine Diktatur verwandelt (und Hans Bredow ins Gefängnis gesteckt), machte Propagandaminister Goebbels schon am nächsten Tag den Intendanten klar: „Der Rundfunk gehört uns!“.
Die nächsten 12 Jahre überspringe ich jetzt. Siehe oben. Nach dem Krieg standen die Sender – auch Radio Stuttgart und der Südwestfunk – unter Aufsicht der Besatzungsmächte. Die Nachrichten wurden zensiert. Doch am 1. Januar 1948 werden die ersten Sender in Anstalten des öffentlichen Rechts überführt. Und wieder war es Hans Bredow, der daran maßgeblich mitgewirkt - auch an der föderalen Struktur. Kurz vor der Übergabe im Dezember 1947 erklärt Bredow den Deutschen hat, was das sein soll: „Öffentlich-rechtlicher Rundfunk“.
Natürlich war damit die Entwicklung des Radios nicht zu Ende: UKW, Kulturprogramme, Stereophonie, Verkehrsservice, Popwellen – der SWR und seine Vorläufer waren in vielem Vorreiter. 2004 waren die ersten SWR2 Wissen-Folgen on demand abrufbar – einer der ersten Podcasts einer Rundfunkanstalt. Doch erst 2020 kam der richtige Podcast-Boom.
Wenn man die Geschichte so erzählt, wirkt es merkwürdig, den Begriff „Radio“ nur für den linearen Hörfunk zu verwenden. Radio schließt für mich auch Podcast und Streamingdienste mit ein. So wie auch der Begriff Rundfunk irgendwann Fernsehen „mitmeinte“.
An der Stelle kommen meist zwei Einwände. Nr 1: „Radio ist in Echtzeit, Podcast ist on demand. – das ist etwas ganz anderes.“ Gegenargument: Ja, manchmal. Aber auch lineares Radio war nie nur „live“.
Bis auf wenige Ausnahmen ist für User die Unterscheidung „linear/ nonlinear“ zweitrangig - außer bei Echtzeit-Sendungen.
Einwand Nr. 2: „Podcast hat aber eine ganz andere Ansprache!“. Gegenargument: Es gibt keine „typische“ Radioansprache. Radio reicht von Nachrichten bis Hörspiel, von Hitparade bis Sportreportage. Das Neue, was Podcasts an „Ansprache“ bringen, ist gemessen an diesem riesigen Spektrum keine Revolution. Umgekehrt wirken sie ja auch in den linearen Hörfunk zurück. Die Ansprachen gleichen sich insofern sogar ein wenig an.
Was macht Radio aus? Früher hieß es oft lapidar: „Radio ist das schnellste Medium“. Wenn es nur das gewesen wäre, wäre es heute verschwunden. Es gibt schnellere.
Aber: Radio ist nach wie vor das einzige Medium, das „nebenbei“ konsumiert werden kann. „Nebenbei“ sagt dabei nichts über die Aufmerksamkeit. Man kann sehr aufmerksam im Auto, beim Bügeln oder Kochen Informationen über das Radio aufnehmen oder in Musik versinken. Radio ist das vermutlich „sinnlichste“ Medium. Gleichzeitig kann es auch Gedanken und Zusammenhänge transportieren, die das Fernsehen in seiner Abhängigkeit von Bildern kaum vermittelt. Es kann mir Themen nahebringen, über die ich nie einen Zeitungsartikel lesen oder eine Doku gucken würde.
Wenn dies die entscheidenden Merkmale sind, dann treffen sie offenbar auf lineares und nicht-lineares Audio gleichermaßen zu. Also können wir, wenn wir über die Massenverbreitung auditiver Inhalte sprechen, genauso gut weiter selbstbewusst vom „Radio“ sprechen – und somit einen Begriff verwenden, der Zukunft transportiert, ohne sich vor seiner Vergangenheit zu verstecken.
Hier erfährst du mehr zu der Geschichte des Rundfunks.
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