Jeder zehnte Jugendliche hat Drogenerfahrung. Ein Viertel davon konsumiert regelmäßig. Für diese Betroffenen steht ein umfangreiches Hilfs- und Beratungsangebot bereit. Doch was ist mit ihren Eltern? Im Umgang mit der Drogenproblematik sind sie meist hilflos. Ein Defizit mit fatalen Folgen.
Jedes Jahr präsentiert die Bundesregierung der Öffentlichkeit ihren Drogenbericht. So auch 2017. Auf den ersten Blick hat der Staat alles im Griff: Es gibt immer weniger Drogentote. Harte Drogen, wie z.b. Heroin sind auf dem Rückmarsch. Der Drogenkonsum in Deutschland insgesamt ist auf eher niedrigem Niveau stabil. Die Brisanz des Problems zeigt sich erst auf den zweiten Blick.
Prof. Rainer Thomasius ist Suchtmediziner und Facharzt für Kinder-und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Hamburg. Er verweist auf eine besorgniserregende Tendenz: Gerade bei Minderjährigen wird Cannabis immer beliebter. In der Altersgruppe zwischen 12 und 17 Jahren konsumieren bereits 7 Prozent der Jugendlichen Cannabis. Andere Drogen spielen in diesem Alter noch keine Rolle. Weniger als ein Prozent der Minderjährigen hat damit Erfahrungen gemacht.
Andere Wirkung bei Kindern
Cannabis wirkt bei Jugendlichen intensiver als bei Erwachsenen. Regelmäßiger Konsum kann gravierende gesundheitliche Folgen haben. Außerdem bemerkt das Gehirn solche frühen Eingriffe in seine Chemie. Es regelt die Empfindlichkeit seiner Cannabisrezeptoren herunter und gewöhnt sich an die regelmäßige Cannabiszufuhr. Es entsteht eine Abhängigkeit.
Bei plötzlichem Entzug kommt es bei den Betroffenen zu Gereiztheit, Angst und Depression. Dabei reagiert das unreife Gehirn von Kindern und Jugendlichen besonders sensibel auf Cannabis. Sie werden nicht nur intensiver high, sondern auch schneller abhängig als Erwachsene. Deshalb sehen Experten selbst den gelegentlichen Cannabiskonsum von Jugendlichen kritisch.
Eltern meist ausgeschlossen
Sucht ist eine Krankheit und folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Eltern kennen die damit verbundenen Abläufe meist nicht. Sie sind der Krankheit ihrer Kinder überwiegend hilflos ausgeliefert. Umso erstaunlicher, dass die professionelle Sucht- und Drogenberatung die Eltern Minderjähriger meist aus dem Therapieprozess heraushält. Erst langsam beginnen die Profis zu berücksichtigen, dass die jugendlichen Konsumenten oftmals verzweifelte Eltern haben.
Einige Berliner Eltern haben sich schon vor etlichen Jahren zur Eigeninitiative entschlossen. Sie gründeten 1971 die ersten Selbsthilfegruppen für Eltern, deren Kinder drogenabhängig oder süchtig sind. Sabine Hinze ist Vorsitzende des Elternkreises Berlin-Brandenburg. Probleme mit der eigenen Tochter haben sie dazu gebracht, diese Initiative mit ins Leben zu rufen.
Sucht und Schuld
Mit der Sucht verlieren die betroffenen Kinder- und Jugendlichen die Kontrolle über das eigene Sozialverhalten. Sie lügen, betrügen und werden kriminell. In den Gesprächsgruppen können e sich die Eltern gegenseitig stützen und Erfahrungen austauschen. Auch darüber wie man von den eigenen Kindern getäuscht wird. Bei vielen Eltern fällt erst im Gespräch mit anderen Betroffenen der Groschen. Erst jetzt verstehen sie, warum sich ihr Kind so merkwürdig verhalten hat. Was den Eltern am meisten zusetzt, sind die Schuldgefühle, sagt Sabine Hinze.
Darum müssen sie lernen, die notwendige Distanz zum eigenen Kind zu entwickeln. Konsequent zu sein, auch wenn es weh tut. Die nötige Kraft, die dazu erforderlich ist, vermittelt ihnen der Austausch in der Gruppe. Etwa 600.000 Heranwachsende sind laut einer gemeinsamen Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften in Deutschland von einer Cannabisabhängigkeit betroffen - und mit ihnen die Eltern.
Multidimensionale Familientherapie
Angesichts solcher Zahlen sind die bestehenden Selbsthilfegruppen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Experten fordern ein Umdenken in der deutschen Beratungslandschaft. Eltern sollten grundsätzlich in die Therapie einbezogen werden. Vorurteilsfrei und ohne Vorwürfe. Das ist das Grundprinzip eines Konzepts, das seit einiger Zeit in den USA Furore macht: "Multi modular family therapy" oder kurz MDFT. Entwickelt wurde es von Howard Liddle an der Universität Miami. Seine multidimensionale Familientherapie setzt in der Therapie bewußt auf die Familie. Und wenn es nötig ist, wird auch das soziale Umfeld wie Freunde, Lehrer und gegebenenfalls Sozialarbeiter eingebunden.
MDFT ist in den USA eine Erfolgsstory. In Deutschland haben bislang nur drei Beratungsstellen das Konzept umgesetzt. Eine davon ist der Therapieladen in Berlin, der mit MDFT sehr gute Erfolge erzielt. Geleitet wird er von dem Psychologen Andreas Gantner. Der Berliner Therapieladen erzielt mit MDFT sehr gute Erfolge. Im Gegensatz zur konventionellen Therapie funktioniert das Konzept auch noch, wenn die Kinder sich der Therapie zeitweise entziehen. Die Eltern können trotzdem weiter betreut werden und versuchen, Einfluss auf ihre Kinder auszuüben.
Höherer Beratungsaufwand
In den wöchentlichen Sitzungen werden Probleme besprochen, zum Beispiel dass der Sohn – obwohl er sein Ehrenwort gegeben hat – weiter konsumiert. Die Eltern beraten sich mit dem Therapeuten, ob und in welchem Umfang sie Drohungen aussprechen sollen. Denn Drohungen müßen auch durchgesetzt werden. Die Eltern lernen hier, dass es sinnvoll sein kann, auf die eigene Autorität zu pochen. Verbote müssen nicht immer nur sachlich begründet werden. Kinder akzeptieren das durchaus.
Wenn die Eltern und das soziale Umfeld mit einbezogen werden, ist allerdings der Beratungsaufwand höher – und damit steigen auch die Kosten für den jeweiligen Fall. Vorteil: Im Vergleich zur konventionellen Einzeltherapie brechen die Betroffenen die Beratung viel seltener ab und reduzieren ihren Drogenkonsum deutlicher. Trotzdem stößt die amerikanische Familientherapeutin Gayle Dakof mit MDFT oft noch auf taube Ohren.
Dennoch ist Dakof davon überzeugt, dass das Programm sich auch in Deutschland etablieren wird. Spätestens dann, wenn den Behörden die Probleme über den Kopf wachsen. Ein schwacher Trost für die betroffenen Familien.
Produktion 2018
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