Seit 12 Jahren gibt es das Anti-Stalking-Gesetz. Doch es hat die Täter kaum abgeschreckt. Betroffene leiden unter Angst und Isolation, jedes vierte Stalking-Opfer denkt an Suizid.
Belästigen, verfolgen, bedrohen, nachstellen, auflauern – Stalking hat viele Gesichter: Die Rose unter dem Scheibenwischer, Komplimente per SMS, Geschenke in der Post. Anfangs wirkt es wie Liebeswerbung. Recht schnell aber wird die permanente Verfolgung zur Bedrohung. Zum täglichen Horror. Früher wurden Opfer belächelt, heute ist Stalking strafbar. Trotzdem werden die Angeklagten nur selten verurteilt. An der Situation der Opfer hat sich zwar viel verbessert, doch lange nicht genug, meinen Experten.
Prof. Harald Dreßing ist Stalkingforscher und leitet die Abteilung Forensische Psychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Dort hat er im Jahr 2005 die erste epidemiologische Studie für Deutschland erstellt. Das Ergebnis: Stalking ist keine Randerscheinung. Jeder achte Deutsche wurde im Laufe seines Lebens schon einmal gestalkt. Die durchschnittliche Dauer betrug über zwei Jahre.
Die häufigste Form ist das Ex-Partner-Stalking
Anna ist ein Stalking-Opfer. Es begann, als sie sich nach eineinhalb Jahren Beziehung von ihrem Freund trennte: „Das konnte er nicht akzeptieren und hat immer wieder angerufen und nachts Sturm geklingelt. Irgendwann hab ich ihm gesagt, dass ich das nicht mehr möchte und dass er mich doch bitte in Ruhe lassen soll.“ Michael, der Verlassene, ignorierte Annas Wunsch einfach. Als hätte sie die Trennung nie ausgesprochen. Und steigerte seine Dosis. Bis zu 50 Anrufe täglich.
„Stop Stalking“ in Berlin-Steglitz ist die erste Beratungsstelle für Täter. Schon seit zehn Jahren bietet der Psychologe Wolf Ortiz-Müller mit seinem Team Beratungsgespräche für Stalker an. Rund 120 Stalker kommen jährlich in die Beratungsstelle. Erklärtes Ziel ist es, die Täter seelisch so stabil zu machen, dass sie im besten Fall vom Stalken ablassen.
Die Stalking-Persönlichkeit schlechthin gibt es nicht, sagt Ortiz-Müller. Doch einige Faktoren können Stalking begünstigen: fragiles Selbstwertgefühl, kein stabiles soziales Umfeld, kein erfüllender Job, manchmal auch nie verwundene frühkindliche Trennungen. Kommt all das zusammen, kann unter Umständen aus dem Verlassenen ein Stalker werden. In den Beratungsgesprächen geht es um Selbsterkenntnis, Perspektivwechsel, Mitgefühl mit den Opfern – im Idealfall.
Warum werden Menschen zu Stalkern?
Es bleibt die Frage: Warum tun Menschen so etwas? Im Rahmen einer Untersuchung der TU Darmstadt nannten Stalker als Motive angebliche „Fürsorge“, eine „schicksalhafte Verbindung zum Opfer“, aber auch Rache und Macht.
„Und dann ist er bei mir eingebrochen als ich ein Wochenende bei meiner Freundin war, um mal Luft zu schnappen. Man ist machtlos, egal wie man reagiert. Nichts nützt! Im Gegenteil: Es wurde nur noch schlimmer“, berichtet Anna. Schwerste Grenzverletzungen – darum schien es Annas Ex-Freund zu gehen.
„Solche Menschen sind doch krank!“ ist oft zu hören. Stimmt das? Nein, die Mehrzahl nicht, sagt Stalking-Forscher Harald Dreßing: „Es gibt eine kleinere Gruppe von Stalkern, die sind psychisch krank. Die große Mehrzahl der Stalker, weit über 90 Prozent, erfüllt aber die psychiatrischen Krankheitskriterien nicht, und aus meiner Sicht müssen die mit aller Härte, die die Gesetze zur Verfügung stellen, bestraft werden.“
Anti-Stalking-Paragraf zeigt Wirkung
Frühes Einschreiten kann Leben retten. Das funktioniert aber nur, wenn Opfer ernst genommen werde. Bei einer Untersuchung der TU Darmstadt aus dem Jahr 2005 gab jedes zweite Stalking-Opfer an, dass es sich von der Polizei nicht ausreichend geschützt fühlte. Das hat sich in den letzten Jahren verbessert: Nach Einführung des Anti-Stalking-Paragrafen im Jahr 2007 wurde die Befragung wiederholt: Nun wurden die Opfer bei der Polizei besser beraten und bekamen öfter Verhaltensempfehlungen. Am Stalking selbst änderte das in jedem vierten Fall etwas.
Im Opferschutzverband Weißer Ring arbeiten Fachleute wie Psychologen, Opferhelfer, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Polizisten und Kriminalpsychologen zusammen. Bei rund jeder zwölften Beratung des Weißen Rings geht es um Stalking. Als Stalking im Jahr 2007 strafbar wurde, hatten sich Opferschützer wie Gerhard Müllenbach vom Weißen Ring zunächst eine Menge erhofft, wurden dann aber von der Rechtsprechung enttäuscht: „Wenn von 22.000 ermittelten Stalkern nur 220 verurteilt werden, dann macht das klar, welche Hürden unser Bundesgerichtshof da für sie Rechtsprechung aufgerichtet hat.“
Die wichtigste Verhaltensweise: Den Täter ignorieren
Am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit bekommen Stalking-Betroffene neben seelischer Unterstützung praktische Tipps, wie sie mit dem Stalker umgehen sollen. Scheinbar simpel, aber wichtig: Konsequentes Ignorieren. Dazu gehört auch: Rigoroser Kontaktabbruch, Umfeld einweihen, alle Grenzüberschreitungen dokumentieren. Daneben möchte Harald Dreßing gemeinsam mit seinen Kollegen die Opfer wieder stabil und selbstbewusst machen.
Anna verließ nur noch selten das Haus. Und wenn, dann immer in Begleitung. Schließlich kam die Nacht, in der sie zwei Freunde nach einem Discobesuch nach Hause begleiteten: „Und da stand er. Wir haben die Polizei gerufen, die auch recht schnell da war. Die haben ihm eine Gasschreckschusspistole und einen Elektroschocker abgenommen und ihm Platzverbot erteilt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.“
Anna konnte auf zivilrechtlichem Weg eine richterliche Verfügung erwirken. In ihrem Fall bestand sie darin, dass ihr Ex-Freund sie nicht mehr beleidigen, belästigen und bedrohen und sich ihr auf nicht mehr als 50 Meter nähern darf. Er verstieß mehrfach gegen diese Verfügung und zahlte einige Geldstrafen. Langfristig droht ihm die Inhaftierung.
Im Jahr 2007 wurde der Paragraph 238 ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Das so genannte Nachstellungsgesetz lautet in Auszügen: Wer einem Menschen unbefugt nachstellt, und dadurch seine Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Von nun an galt Stalking nicht mehr als Kavaliersdelikt, sondern als Straftat, um die sich Polizei und Justiz kümmern.
Jährlich werden 200.000 Fälle von Stalking anzeigt, in jedem hundertsten Fall kommt es zu einer Verurteilung. Die Gründe für die niedrige Verurteilungsquote waren vielfältig: Es fehlten eindeutige Beweise, die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos, der Stalker konnte nicht ermittelt werden oder er stellte sein Verhalten freiwillig ein.
"Schwere Beeinträchtigung" ist schwer nachzuweisen
Außerdem sei die schwere Beeinträchtigung schwer nachzuweisen, so Torsten Kunze, leitender Oberstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Erst wenn der Stalker das Leben seines Opfers vollkommen ruiniert hatte, war Stalking überhaupt strafbar. Ein Unding für Opferschutzverbände. Für die meisten Stalking Opfer am schlimmsten: die seelische Belastung. Ein Leben voller Angst und der einzige Ausweg ist am Ende die Flucht. Und sogar am neuen Wohnort schafft es manch ein Stalker, sein Opfer aufzuspüren.
Damit es erst gar nicht so weit kommt und Polizei und Justiz künftig viel früher und effektiver einschreiten können, wurde im Frühjahr 2017 der Stalking-Paragraph 238 novelliert: In der neuen Fassung müssen die Taten des Stalkers nur dazu geeignet sein, eine Veränderung der Lebensgestaltung herbeizuführen. Auch wenn das zunächst unpräzise klingt, ist es sowohl für den Weißen Ring als auch für Oberstaatsanwalt Torsten Kunze ein Fortschritt.
Frühwarnzeichen richtig erkennen
Kann man sich präventiv vor Stalking schützen? Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing ist unentschieden. Jeder kann jederzeit Opfer werden, und kein Opfer trägt Schuld am Verhalten des Täters. Trotzdem hat seine jahrelange Arbeit über das Thema gezeigt, dass es zumindest in Beziehungen erste Frühwarnzeichen dafür gibt, dass der geliebte Partner nach der Trennung zum Stalker werden könnte: „Kontrollierende Verhaltensmuster sind unter Umständen ein Risikofaktor dafür, dass jemand, wenn die Beziehung in die Brüche geht, ein Stalker werden kann.“
Dabei wünschen sich eigentlich alle Opfer nichts sehnlicher, als dass die Nachstellungen aufhören. Und zwar für immer.
Produktion 2017
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Psychologie Raus aus der Komfortzone – Warum sich Anstrengung lohnt
Etwas geleistet zu haben, gibt uns das Gefühl, wertvoll zu sein, etwas zu können und uns in schwierigen Situationen selbst helfen zu können. Wer sich freiwillig anstrengt, hat oft Spaß dabei. Von Luca Sumfleth (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/komfortzone-verlassen | Weitere Infos: Studie zur wechselseitigen positiven Beziehung von sportlicher Aktivität und Zufriedenheit | https://www.bsfrey.ch/wp-content/uploads/2021/08/C_644_Does-Sports-Make-People-Happier.pdf || Studie zu Zusammenhang zwischen der Bereitschaft sich im akademischen Leben anzustrengen und Persönlichkeitsmerkmalen | https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0092656613001451?casa_token=j6YPX6gxvSMAAAAA:o3Tr-5VNA3LsD04Q4A59ANKbRwFrIPsFuruCrr3he0l89O-_JLj2hNLT2nT8rvJCEdvLpXRxsSAu || Studie von Veronika Job zur Freude an kognitiver Anstrengung ohne Belohnung: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35101919/ | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen
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