Hilfsbedürftigkeit kann jeden, zu jeder Zeit, in jedem Alter treffen. Doch wie sieht eine staatliche Betreuung aus, die nicht in die Selbstbestimmung der Betreuten eingreift und gleichzeitig eine Hilfe ist?
Betreuungsverfahren: Betroffene müssen persönlich gehört werden
Oft regen Außenstehende eine Betreuung an: Mitarbeiterinnen von Altenheimen, ambulanten Pflegediensten, Hausärzte oder Familienangehörige. Man kann aber auch selbst für sich eine Betreuung beantragen. Das heißt, einen Antrag beim Betreuungsgericht stellen, das dann prüft, ob eine Betreuung notwendig ist.
Wenn es zum ersten Mal um eine Betreuung geht, wird neben einem Betreuungsgericht außerdem die Betreuungsbehörde hinzugezogen. Früher war das das Jugendamt, inzwischen haben Landkreise und Städte eigene Behörden dafür geschaffen. Im Betreuungsverfahren selbst müssen die Betroffenen unbedingt persönlich gehört werden.
Dafür gehen die zuständigen Richter und Richterinnen auch nach Hause oder ins Pflegeheim, machen sich also selbst ein Bild. Erst dann entscheiden sie. Es soll auch geprüft werden, ob es private oder staatliche Hilfen gibt, die aktiviert werden können, um eine rechtliche Betreuung zu vermeiden. Denn die Übertragung von Aufgaben auf einen Betreuer greift letztlich in die Selbstbestimmung ein.
Ehrenamtliche Betreuer: 399 Euro Aufwandsentschädigung pro Jahr
Wer Betreuer oder Betreuerin sein kann, ist gesetzlich geregelt. Es gibt zirka 17.000 Berufsbetreuer in Deutschland, die aus den Kassen der Bundesländer oder aus dem Vermögen der Betreuten bezahlt werden. Die Höhe richtet sich nach differenzierten Fallpauschalen, Unterbringungsart, Dauer und Qualifikation. Die Spanne reicht von rund 70 bis über 400 Euro pro Monat.
Betreuungsvereine sollen parallel dazu ehrenamtliche Betreuer gewinnen, diese schulen und bei ihrer Tätigkeit beraten und begleiten. Rund 800 Betreuungsvereine sind in der Bundesrepublik anerkannt, in denen schätzungsweise 700.000 Ehrenamtliche tätig sind. Für dieses Ehrenamt erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von 399 Euro. Im Jahr.
Das Selbstbestimmungsrecht von Betreuten wird zu stark eingeschränkt
Thomas Künneke von der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben e.V.“ streitet dafür, dass alle Formen der „ersetzten“ Entscheidung durch die „unterstützte“ Entscheidung abgelöst werden. Das bedeutet: Der Betreuer entscheidet nicht allein, sondern assistiert seinen Klienten bei der Entscheidungsfindung.
Künneke war selbst Berufsbetreuer, kennt aber auch die andere Seite, die des Betreuten. Manchmal leide seine Seele, sagt er. Grund sind eine posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen. Für ihn ist Betreuung eine einfache und eingrenzbare Dienstleistung, die er nur wenige Tage im Jahr benötigt. Die Realität in Deutschland ist anders. Das zeigen auch die Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Das Selbstbestimmungsrecht wird durch die Betreuung zu sehr eingeschränkt.
Man bräuchte mehr Betreuungspersonal, nicht nur für die Kontrolle
In einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz wird die Zahl der nicht notwendigen Betreuungen auf bis zu 15 Prozent beziffert. Der Deutsche Behindertenrat betont daher: Jede Betreuung, die durch andere Unterstützungsleistungen aus der Sozialgesetzgebung verhindert werden könne, stehe für die Einhaltung des Selbstbestimmungsrechtes. Und das sollte gestärkt werden.
Doch was ist unter anderen Hilfen zu verstehen? Angebote der Eingliederungshilfe, die Unterstützungsleistung durch Sozialarbeiter, ambulante Unterstützungsleistung – es gibt in Deutschland ein ausdifferenziertes System von ambulanten Hilfen. Doch dies setzt voraus, dass die Klienten sich darüber selbstständig informieren können, um diese Hilfen in Anspruch zu nehmen.
Selbstständig arbeitende Betreuer müssen von ihrer Arbeit leben können
Sven Eichner ist Berufsbetreuer in Dresden. Der studierte Heil- und Behindertenpädagoge betreut 45 Klienten und liegt damit im Durchschnitt. Eichner ist auch im Verband der Berufsbetreuer aktiv. Er und seine Kollegen machen sich Gedanken, wie das Betreuungsrecht reformiert werden könnte. Natürlich fordert der Berufsverband mehr Zeit für jeden Einzelnen und weniger Klienten. Aber dann müsse man auch anders vergüten, denn der selbstständig arbeitende Betreuer muss von seiner Arbeit leben können.
Ein weiterer Kritikpunkt des Verbandes betrifft die Qualifikation. Jeder kann laut Gesetz Betreuer werden. Das sollte sich ändern, meint Sven Eichner, hin zu einem Mindestabschluss und einer beruflichen Qualifikation, welche der extrem verantwortungsvollen Tätigkeit eines Betreuers gerecht wird.
Behindertenverband fordert unabhängige Prüfung der Notwendigkeit von rechtlicher Betreuung
Außerdem sollte kontrolliert werden, was tatsächlich in der Betreuung geleistet wird. Das finde derzeit nicht statt, sagen Betroffene. Eine solche Qualitätskontrolle sei aber eine Forderung der Behindertenverbände. Und Betreuungen würden für einen viel zu langen Zeitraum ausgesprochen, die längste Dauer sind sieben Jahre. Erst dann erfolgt eine Überprüfung. Das sei zu lang, finden die Verbände. Sie fordern unabhängige Clearing-Stellen, die prüfen, ob andere Hilfen eine rechtliche Betreuung überflüssig machen.
Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts befindet sich aktuell in einer finalen Ressortabstimmung. Es sei eine zügige Kabinettbefassung geplant. Stefan Göthling vom Verein „Mensch zuerst“ ist darauf gespannt. Ginge es nach ihm, sollte aus dem, was früher „Vormund" genannt wurde und heute Betreuer heißt, der „rechtliche Unterstützer“ werden.
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