Rache ist ein faszinierendes Phänomen. Ob sie nun süß oder sauer ist, sei dahingestellt. Sie ist unbestreitbar eine der großen Triebkräfte menschlichen Handelns und seit jeher ein großes Thema in der Literatur.
Jürgen Wertheimer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Tübingen, blickt auf die europäische Literatur und skizziert eine Kulturgeschichte der Rache.
Rache als Konstante in der Literatur
Wie eine Konstante zieht sich unsere Lust an der Inszenierung grausamer Rache- Szenarien durch die Weltliteratur. Weiß Gott nicht nur im Trivialen, sondern ebenso im hohen, klassischen Bereich. Wie man weiß, sind solche Elemente fast immer die emotionalen Höhepunkte einer Aufführung und Garanten eines ambivalenten Zuschauerinteresses.
Shakespeares meistgespieltes Stück ist ausgerechnet das mit Gewaltexzessen bestückte Drama „Titus Andronicus“, das in einer ekelerregend radikalen Racheepisode endet: Thyestes serviert dem verhassten Gegner als Rache für dessen Taten das zur Pastete verarbeitete Fleisch seiner eigenen Söhne.
Heute scheint das Thema Rache tabu zu sein. Im zivilisierten Diskurs nistet es versteckt, irgendwo zwischen Neid, Missgunst und Gewalt – in der Schmuddelecke unserer Emotionen. Ganz so, als wäre es nur im kriminellen oder archaischen Milieu zu Hause. In Wahrheit wohnt es mitten unter uns und ist allgegenwärtig: im Gerichtssaal, wenn eine Mutter aufspringt und den Vergewaltiger ihrer Tochter auf offener Bühne erschießt. In der Klinik, wenn ein enttäuschter Patient seinen Arzt angreift.
Fontanes "Effi Briest": Radikale Entmystifizierung der Rache
Wir sollten der Versuchung widerstehen, die Rituale der Rache in der Antike zu verorten – oder in Kulturen, die wir geneigt sind als rückständig zu betrachten. Es genügt, ein wenig am Lack der eigenen Kultur zu kratzen, um die Spuren des vermeintlich „Archaischen“ selbst im 19. Jahrhunderts zu entdecken.
Man denke nur an Fontanes Roman „Effi Briest“, in dem die ritualisierte Form der rächenden Wiederherstellung männlicher Ehre durch das Duell in seiner monströsen Hirnlosigkeit vorgeführt wird. Einem vagen „Gesellschafts-Wir“ verpflichtet, glaubt Innstetten, sich am Verführer seiner Frau rächen zu müssen, obwohl er keinerlei Hass oder wirklich Eifersucht gegen ihn empfindet. Allein dieses „Uns- tyrannisierende-Gesellschafts-Etwas“ nötigt ihn, wider besseres Wissen und Empfinden in Aktion zu treten. Als „Privatmann“ hat er seiner Frau Effi den Seitensprung mit Crampas längst verziehen; als Angehöriger seiner Gesellschaft aber sieht er sich genötigt, den „Rivalen“, der schon lange keiner mehr ist, zum Duell zu fordern. Der enorme gesellschaftliche Druck, der auf dem „Rächer“ lasten kann, wurde kaum je derart genau dokumentiert. Das Ritual der Rache steht in seiner ganzen Nacktheit, letztlich Erbärmlichkeit vollständig entmystifiziert vor uns.
Fernsehkrimi: Rache-Szenen zur besten Sendezeit
Man kennt das aus den Krimis, die zur „besten Sendezeit“ laufen. Immer wenn ein Opfer, Mann oder Frau, meist mit sehr guten Gründen mit einem bösartigen Täter abrechnen will, schreitet der Staat in Gestalt des Kommissars oder einer anderen Instanz ein. Entweder man fährt im letzten Moment, bevor der Racheakt vollstreckt werden kann, dazwischen. Oder – falls man zu spät kommt – nimmt man den Täter, gelegentlich mit ein wenig Mitgefühl, in Haft und bringt ihn vor Gericht. Hier siegt die Demokratie mit ihrer Rechtsstaatlichkeit über die Rache, die gleichsam eingehegt und gezähmt wird.
Auf ihre ungezähmte Form verweisen die Künste. Sie machen das verdrängte Erbe der Kultur der Rache immer wieder sichtbar und zeigen die enorme Anstrengung, die nötig ist, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Nur mit moralischen Appellen und Verwaltungsbestimmungen ist dem nicht beizukommen, – es gilt auch den Emotionen der beteiligten Figuren gerecht zu werden, um Gerechtigkeit herzustellen.