Diese Pandemie hat uns verändert. Plötzlich stehen Werte im Mittelpunkt, die vorher vernachlässigt wurden, wie solidarisches Verhalten, Wertschätzung gegenüber Pflegern. Diese Krise hat das Potenzial, eine Systemveränderung auszulösen.
Ein Vortrag des Soziologen Prof. Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen.
Overview-Effekt und Corona-Krise: Gefühl der Verantwortung für die Umwelt
Der Overview-Effekt ist vor allem in der Raumfahrt zu finden, wenn Astronauten vom All aus die Erde neu sehen. Der Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al Saud erinnert sich an seinen Aufenthalt im All:
„Von hier oben sehen alle Schwierigkeiten, nicht nur die im Nahen Osten, seltsam aus, weil die Grenzlinien einfach verschwinden.“ (Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al Saud)
Er berichtet, wie die Astronauten am ersten Tag im All noch auf ihre Länder zeigten, dann auf die Kontinente und nach ein paar Tagen nur noch auf den Planeten Erde.
Der Overview-Effekt verhindert, sich ausschließlich egoistisch mit sich selbst zu beschäftigen und hilft, sich als Teil eines größeren Systems zu erkennen. Der Blick aus dem All erzeugte Mitleid mit dem Planeten, ein profundes Verständnis der großen Zusammenhänge des Lebens sowie das Gefühl der Verantwortung für die irdische Umwelt. Diese Tugenden benötigen wir dringender denn je. Genau diesen Effekt könnte auch die Corona-Krise auslösen.
![Europa und Asien aus dem All – die Grenzen verschwinden (Foto: IMAGO, imago images / Ikon Images / xIanxCumingx) Europa und Asien aus dem All – die Grenzen verschwinden](/swrkultur/wissen/1653463612572%2Ceuropa-und-asien-aus-dem-all-blick-auf-die-erde-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Eine neue Perspektive auf die Welt und die Gesellschaft
Gegenwärtig zwingt uns ein unsichtbares Virus eine neue Perspektive auf unsere Welt auf. Corona hat den Overview-Effekt im planetarischen Maßstab demokratisiert. In der irdischen Variante könnte uns deshalb die neu gewonnene ganzheitliche Perspektive auch den Weg aus der Krise weisen und notwendigen Treibstoff für soziale Transformationen und progressive Veränderungen liefern. Corona wäre dann im Idealfall eine Art philosophischer Katalysator.
In dieser Variante würde der Overview-Effekt helfen, Denk- und Handlungsblockaden aufzulösen, die uns viel zu lange gelähmt haben. In kürzester Zeit werden gegenwärtig Einsichten gewonnen, für die sonst lange Zeiträume notwendig waren.
Corona kann als Überholspur im Alltagslabor der Menschheit verstanden werden, auf der unser Denken beschleunigt. Der Corona-Effekt macht deutlich, wie die Vollkasko-Mentalität, die lange Zeit die unhinterfragte Grundlage vieler Existenzen war, nun von einem seuchenpolitischen Imperativ abgelöst wird: Zusammenarbeiten! Zusammenhalten!
Kampf gegen das Monster des Bodenlosen
Dieser Imperativ könnte uns helfen, die Haltung zu überwinden, mit der wir lange Zeit das Monster des Bodenlosen heranzüchteten, das uns nun alle erschreckt. Wir alle sind von seinen Drohgebärden – soziale Desintegration, planetarische Zerstörung, globale Ungleichheiten und individuelle Erschöpfung – eingeschüchtert. Das Monster beutet uns immer perfider aus. Es erzeugt nicht nur Unordnung, Angst und Neurosen. Es führt auch zum vollständigen Verlust des gesellschaftlichen Gravitationszentrums.
Dieser neoliberale Kreuzzug rächt sich jetzt, wenn nach einer jahrzehntelangen sozialen Kälteperiode plötzlich umfassende Solidarität gefordert wird. Und es besteht gerade deshalb die Chance, utopisches Denken neu zu entdecken, die Routinen und statischen Denkmuster zu erlassen.
Im Zuge der Krise ist Kooperation statt Konkurrenz die neue Grundsubstanz für diesen Wandel – Grundlage einer gerechten Gesellschaft ist gegenseitige Unterstützung. Irgendwo im Leben von Individuen muss etwas existieren, das die Rettung ganzer Gemeinschaften bewirken kann, sonst ist das Experiment Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Das Ego des Einzelnen muss sich den Bedürfnissen der menschlichen Gemeinschaft unterordnen.
![Danksagung an diejenigen, die in der Corona-Krise das öffentliche Leben am Laufen halten. Balkon in Berlin-Prenzlauer Berg (Foto: IMAGO, imago images / Seeliger) Danksagung an diejenigen, die in der Corona-Krise das öffentliche Leben am Laufen halten. Balkon in Berlin-Prenzlauer Berg](/swrkultur/wissen/1712329271109%2Cdanke-transparent-allen-helfern-in-der-corona-krise-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Hemmende Utopiemüdigkeit jetzt überwinden
Doch trotz zahlreicher Manifeste zur Rettung der Welt, trotz Leitbildern entstand bislang keine bessere Welt. Fehlende Langfristorientierung, Verlustaversion, liebgewonnene Gewohnheiten, das Einrichten in der Komfortzone, Pfadabhängigkeiten in Politik und Wirtschaft – das alles sind Gründe für die hemmende Utopiemüdigkeit, die wir gerade jetzt überwinden können und müssen.
Gespräch Positive Visionen für die Post-Corona-Ära mit Zukunftsforscher Matthias Horx
Zukunftsforscher Matthias Horx entwirft in seiner „Corona-Rückwärts-Prognose“, eine positive Vision für die Zeit nach der Corona-Krise. Er setzt auf die Lernfähigkeit der Menschen und lädt dazu ein, die Chancen in der Krise zu sehen. Was hat sich für Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, in der Corona-Pandemie verändert? Machen auch Sie positive Entdeckungen?
Neues Coronavirus: aktuelle Beiträge
Diskussion Mit letzter Kraft – Wie lange hält die Lockdown-Disziplin?
Die Nerven liegen blank. Die Bevölkerung wendet sich zunehmend gegen die Corona-Maßnahmen von Bundesregierung und Ländern. Reichen Durchhalteparolen und weitere Lockerungen aus, um die Disziplin aufrecht zu halten? Was geschieht, wenn die Stimmung kippt? Thomas Ihm diskutiert mit Dr. Christina Berndt - Wissenschaftsjournalistin, Süddeutsche Zeitung, Prof. Dr. Bodo Plachter - Virologe, Universitätsmedizin Mainz, Christoph Prantner - Deutschlandkorrespondent der NZZ
Diskussion Krisen-Grüße aus Davos – Wie kommt die Wirtschaft durch die Pandemie?
„Das Jahr 2021 wird entscheidend für die Zukunft der Menschheit“. So dramatisch sieht Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, den Ernst der Lage. Das Treffen von Eliten aus Politik und Wirtschaft in Davos wird in diesem Jahr zum virtuellen Krisen-Gipfel. Die Pandemie hat Länder weltweit in die Rezession getrieben. Auch in Deutschland fürchten ganze Branchen um ihre Existenz. Welche Weichen müssen jetzt gestellt werden, damit sich die Wirtschaft wieder erholt? Geli Hensolt diskutiert mit Prof. Dr. Marcel Fratzscher -Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Ulrike Herrmann - Wirtschaftsredakteurin der „taz“, Prof. Dr. Monika Schnitzer - Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Diskussion Geschlossene Gesellschaft – Welche Langzeitfolgen hat der Lockdown?
Der Mensch ist längst nicht so anpassungsfähig wie das Virus: Während Covid 19 mutiert, müssen wir uns verkriechen. Wie verkraftet eine saturierte Gesellschaft zehn Monate Angst, Unsicherheit, Kontrollverlust? Wann ist die Grenze des Erträglichen erreicht? Martin Durm diskutiert mit Prof. Dr. Borwin Bandelow - Psychiater, Angstforscher, Uni Göttingen, Dr. Wolfram Eilenberger – Philosoph, Prof. Dr. Teresa Koloma Beck - Soziologin, Helmut-Schmidt Universität Hamburg
Fleischindustrie Corona und die Schweinekrise – Chance für mehr Tierschutz?
In der Pandemie wurde mancher Schlachtbetrieb zum Hotspot und musste schließen. Immer mehr konventionelle Schweinehalter orientieren sich – schon im eigenen Interesse. Von Monika Anthes und Edgar Verheyen. Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/schweinekrise
Aula Schule und Corona | Expertin Heike Schmoll gibt dem Bildungssystem schlechte Noten
Corona verdeutlicht die Defizite des deutschen Bildungssystems: mangelnde Digitalisierung, Benachteiligung unterprivilegierter Schüler, marode Schulgebäude, die ein Durchlüften unmöglich machen. Das Bildungssystem muss dringend modernisiert werden.
Archivradio Umgang mit Corona – Aus früheren Pandemien gelernt?
Spanische Grippe, Asiatische Grippe, SARS. Historische Tonaufnahmen zeigen, wie die Gesellschaft früher mit solchen Situationen umgegangen ist. Was haben wir daraus gelernt? Christoph König im Gespräch mit Gábor Paál. Die historischen Aufnahmen gibt es in voller Länge im Podcast "SWR2 Archivradio". (Folge aus März 2020)
Aula Menschenwürde - Was bedeutet sie uns heute? (2/2)
Ist es moralisch gerechtfertigt, wenn auf einer voll belegten Intensivstation nur noch Menschen mit den größten Genesungschancen behandelt werden? Der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl beschreibt den Zusammenhang von Lebensschutz und Würde.
SWR2 Wissen Wissenschaft 2020 – Der Weihnachtsrückblick
Corona, mutmaßliches Leben auf der Venus, die Suche nach einem Atommüllendlager: Die Wissenschaft hatte 2020 viel zu tun – und hat sich verändert. Auch ihre öffentliche Wahrnehmung. | Mit Sonja Striegl, Ulrike Till, Uwe Gradwohl, Dirk Asendorpf und Gábor Paál
Kultur Musik machen trotz Corona – Worauf es ankommt
Orchester, Chöre, Ensembles und Bands hatten in diesem Jahr viele Pausen und wenige Einkünfte. Die meisten Weihnachtskonzerte können nur im Internet gestreamt werden – wenn überhaupt. Von Almut Ochsmann und Moritz Chelius. Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/konzert-auf-abstand