Eine Milliardärin verspricht Wohlstand für alle – und fordert dafür einen Mord. Wie werden sich die Bewohner des verarmten Städtchens entscheiden? Dürrenmatts Parabel über Geld und Moral ist bis heute aktuell. Denn Güllen ist überall: Produktionsstandorte werden aufgegeben, Gemeinden stürzen in wirtschaftliche Depressionen, in kommunalen Kassen herrscht Ebbe. Mancher mag da auf den Besuch einer Milliardärin hoffen, die einen unerhörten Geldsegen in Aussicht stellt, wenn nur ein paar Bedingungen erfüllt werden.
Theaterszene
Glockenton eines Bahnhofs, bevor der Vorhang aufgeht. Dann die Inschrift: Güllen. Offenbar der Name der kleinen ruinierten und zerfallenen Stadt, die im Hintergrund angedeutet ist. Mit dieser Szene beginnt eines der bekanntesten Theaterstücke des zwanzigsten Jahrhunderts: Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame".
Ein unmoralisches Angebot
Die Gemeinde Güllen nagt am Hungertuch. Da naht die Rettung: Die Milliardärin Claire Zachanassian kehrt in ihre Heimatstadt zurück.
Doch Claire verbindet bittere Erinnerungen mit ihrer Heimat, die sie einst unter Schimpf und Schande verlassen musste. Das hat sie nie vergessen. Auch nicht, als es ihr draußen in der Welt durch eine Serie von Ehen mit Großindustriellen gelang, steinreich zu werden. Mit ihrem Geld hat sie heimlich Güllens Fabriken aufgekauft und dann verkommen lassen.
Davon jedoch haben die Güllener keine Ahnung. Sie hoffen auf Claires Wohltätigkeit und Unterstützung. Und tatsächlich stellt ihnen die inzwischen alt gewordene Dame die Schenkung von einer Milliarde in Aussicht.
Doch sie knüpft eine Bedingung daran: Es müsse jemand Alfred Ill töten, ihren einstigen Geliebten, der sie damals ins Unglück stürzte. Zunächst lehnen die Güllener das unmoralische Angebot ab. Doch die Verlockung auf einen neuen Wohlstand ist zu groß. Sie begehen den verlangten Mord.
Aktueller Stoff
Längst gehört "Der Besuch der alten Dame" zur Schullektüre.
Und die tragische Komödie kann nach wie vor begeistern, findet die Theatermacherin Anschi Prott. Sie hat Dürrenmatts Evergreen unlängst in München inszeniert und dazu an Schulen Workshops abgehalten.
Dürrenmatt hat ja eine ganz tolle Sprache geschrieben, die ist ja zeitlos für mich. Dass man sagt, ok, das muss jetzt nicht in Güllen passieren, das kann jetzt hier in München passieren, es muss nicht in der Schweiz sein. Letztendlich ist der Stoff, den der Dürrenmatt genommen hat, das ist genauso eben heute noch ein Thema. (Anschi Prott, Theater-Regisseurin)
Mit dem Konflikt "Geld oder Moral" – dem zentralen Thema des Stückes – hat Dürrenmatt ins Schwarze ewiger menschlicher Widersprüche getroffen. Der Begriff von Gerechtigkeit, den Dürrenmatt hier ins Spiel bringt, beginnt sofort vieldeutig und widersprüchlich zu schillern. Kann Gerechtigkeit tatsächlich käuflich sein?
Obwohl die Güllener sich zunächst weigern, ihren Mitbürger Alfred Ill umzubringen, bekommt Claire schließlich ihren Willen. Dieses moralische Einknicken vor den Verlockungen des Geldes wurde lange als Versagen interpretiert, als typisch bürgerliche Doppelmoral, als Korrumpierbarkeit, Opportunismus, Mitläufertum.
Gemeinwohl vs. Moral
Sieht man allerdings genauer hin, dann erscheint es etwas zu einfach, das Verhalten der Güllener Bürger allein auf Gier und Herdentrieb zurückzuführen. Schließlich geht es in dem Stück um die erheblich komplexere Frage, wie in einer Krisensituation zu entscheiden wäre, wenn auf der einen Seite das Gemeinwohl und auf der anderen die Moral auf dem Spiel steht.
Moral, das wissen wir auch mit Brecht, muss man sich erst mal leisten können. Und wenn man dann in einer so desolaten Situation ist wie die Dorfbewohner in Güllen ... dann erkennt man, dass es bestimmte Mechanismen gibt, die die Moral wiederum zur Disposition stellen, weil erst das Fressen kommt und dann kommt die Moral. (Nikil Mukerji, Wirtschaftsethiker)
Das Gesellschaftsbild mit all seinen inneren Mechanismen von Schuld und Verantwortung, das Dürrenmatt hier so konkret ausgearbeitet hat, besitzt nach wie vor große Aussagekraft. Und hat das Zeug zur Gesellschaftskritik:
Vielleicht meint er die Weltwirtschaftsordnung, dass man sagt, es gibt diese großen Konzerne und die gehen in kleine Orte und stellen die Bewohner dort vor diese moralischen Konflikte. (Nikil Mukerji, Wirtschaftsethiker)
Für den Wirtschaftsethiker Nikil Mukerji bildet "Der Besuch der alten Dame" eine ausgezeichnete fiktionale Vorlage, um ethische und moralische Fragen zu durchdenken.
Üblicherweise siegt das Geld
Heutige Wirklichkeit im dem Stück zu entdecken, kostet wahrlich keine besonderen Anstrengungen. Der Verschuldungsgrad von Städten und Gemeinden dürfte sich seit den fünfziger Jahren vervielfacht haben. Immer mehr Produktionsstandorte werden aufgegeben, Regionen abgehängt, die Zahl der Modernisierungsverlierer, wie es in der Sprache der Politiker heißt, wächst. Ebenso gut könnte es aber auch um den Verkauf eines Naturschutzgebietes gehen, weil die kommunalen Kassen leer sind. Oder um hehre Grundsätze und Werte, die gegenüber dem Geld üblicherweise den Kürzeren ziehen.
Ab wann ist man korrumpierbar? Ich bin mir absolut sicher, wenn die Frau Zachanassian hier zum Beispiel in die Gemeinde kommen würde und wir wären in der Not, dann würden wir uns wahrscheinlich genauso verhalten wie die Güllener. (Anschi Prott)
Die Güllener in Dürrenmatts Stück knicken also mit einer Milliarde vor der Nase nicht einfach ein, weil sie vor lauter Gier den aufrechten Gang verlernt haben. Sondern sie verlieren den Boden unter den Füßen durch moralische Erosion. Und Dürrenmatt lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht die heruntergekommenen Bürger sind, die dafür allein die Verantwortung tragen. Schließlich ist es in Wahrheit Claire Zachanassian, die alle Regeln und Rahmenbedingungen, mit denen die Güllener zu rechnen haben, bestimmt.
Die "alte Dame" Donald Trump?
Wenn die Güllener am Ende bereit sind, Alfred Ill zu töten, dann tun sie das nur zum geringeren Teil in eigener Verantwortung. In erster Linie handeln sie als Vollstrecker jener Machtverhältnisse, die Claire Zachanassian über sie verhängt hat.
Die schlimmstmögliche Wendung, die hier im Zentrum steht, ist die totale und willkürliche Herrschaft des Kapitals über Moral und Gesellschaft. Claire Zachanassian ist nicht nur eine tief gekränkte, reich gewordene Frau. Sie kann heute viel eher gedeutet werden als Verkörperung eines global agierenden Turbokapitalismus, der die Macht hat, sich ohne Rücksicht über gesellschaftliche Regeln und Verpflichtungen hinwegzusetzen:
Man könnte sich zum Beispiel fragen: Ist Donald Trump die alte Dame von Dürrenmatt? Claire verspricht der Gemeinde, dass sie Wohlstand schafft, Trump verspricht "I will make America great again". (Nikil Mukerji)
(SWR 2017)