Placebos sind mehr als "nichts". Sie können die Gehirnaktivität ändern, Schmerzen lindern, bei Depressionen helfen – sofern die Patienten dem Arzt vertrauen und an die Therapie glauben.
Placebo: regelmäßig und voller Vertrauen einnehmen
Immer wieder stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Studien fest, dass Placebos genauso wie oder in bestimmten Fällen sogar besser wirken als das zu testende Medikament. Ob die "evidenzbasierte Medizin" im Bereich von Heilung und Gesundung die allein richtige ist, ob sich der Blick der Ärzteschaft nicht doch weiten sollte, darüber denken Medizinerinnen neuerdings nach.
Denn bei der Therapie von Reizdarmsymptomen, der Depression und anderen psychiatrischen Krankheiten kann der Anteil der Placebo-Wirkung bei 60 bis 70 Prozent liegen. Alles, was die Patientinnen dafür tun müssen, ist, das Placebo regelmäßig und voller Vertrauen einzunehmen.
Dieses Vertrauen kann auf mehreren Ebenen geschaffen werden:
Ebene 1: die Umgebung oder das Setting
Wird jemand zu Hause behandelt, bei seinem Hausarzt oder in einer großen, aufwändig ausgestatteten Klinik, die Eindruck macht? Dazu passt, dass der Placeboeffekt größer ist, wenn Forscherinnen eine Scheinoperation durchführen, anstatt nur eine Pille zu geben.
Ebene 2: der Patient
Er soll Vertrauen entwickeln und daran glauben, dass eine Therapie hilft. Auch dann steigt der Placeboeffekt.
Ebene 3: Mediziner und ihre Art und Weise, mit Patienten umzugehen
Zuhören, empathisch sein, realistische Erwartungen setzen.
Wissenschaft spricht von "offener Placebo-Gabe"
Neuere Studien zeigen verblüffenderweise, dass der Placeboeffekt auch eintritt, wenn man ihn transparent macht. Wenn man den Patientinnen also offen sagt: Nehmen Sie drei Mal am Tag diese Placebo-Pillen!
Diese Methode half Patientinnen, die lange Zeit an chronischen Schmerzen gelitten hatten, unter anderem in einer Studie von Prof. Ulrike Bingel am Essener Universitätsklinikum. Ulrike Bingel setzte die Methode auch erfolgreich bei Prüfungsstress ein. Andere Forscher taten das bei Migräne, Reizdarm oder der Depression.
Persönliche und individuelle Erwartungen von Patienten werden vor allem im Bereich der Homöopathie und Heilpraxis berücksichtigt. Denn hier wird sich viel Zeit für die Patientinnen genommen. Sie bekommen nicht irgendein Medikament, sondern eine Pille, die genau zu ihnen passt.
Für den Stuttgarter Medizinhistoriker Prof. Robert Jütte erklärt das unter anderem, warum Millionen Menschen seit Jahr und Tag homöopathische Mittel einnehmen. Sie besitzen zwar keine wissenschaftlich nachweisbaren Wirkstoffe, nutzen aber den verstärkten Placeboeffekt.
Psychologische Beratung hilft bei Herzoperation
Momentan arbeiten die Placebo-Forscherinnen daran, noch genauer herauszubekommen, bei welchen Erkrankungen der Placeboeffekt wie stark hilft und wie man ihn gut mit medizinischen Methoden kombinieren kann.
Prof. Winfried Rief in Marburg führte in diesem Zusammenhang eine Studie durch, die viel Aufsehen erregte. Er wollte wissen, wie positive Erwartungen bei Herzoperationen helfen können. Sein Team führte daher mit 120 Patienten vor ihrer Operation Gespräche, um herauszufinden, was sie bedrückt. Heraus kam die Angst, nach der OP nicht wieder richtig arbeiten, reisen und genießen zu können.
Ein Psychologenteam um Winfried Rief versuchte, diese Ängste gezielt abzubauen oder einzudämmen. Es klärte über die Heilungschancen auf, entwickelte positive Zukunftsszenarien nach der OP und machte Mut. Mit dem Ergebnis, dass sechs Monate nach der OP diese Menschen nur halb so stark eingeschränkt waren durch ihre Herzerkrankung wie jene, die keine gezielte Beratung vor der Operation erhalten hatten.
Konditionierung des Gehirns auf positive Wirkung
Das Modell wird momentan in verschiedenen deutschen Herzkliniken erprobt. In einer weiteren Studie behandelte Winfried Rief Menschen mit Schlafstörungen, die schon über längere Zeit Schlafmittel eingenommen hatten. Nach einer gewissen Zeit verabreichte er ihnen Placebos anstelle von diesen Medikamenten.
Winfried Rief baute auf die Vorerfahrungen der Patient*innen, auf einen Lernprozess, der sie positiv konditioniert. Nach dem Motto: Die Medikamente haben ja bisher gewirkt, "dann sollten auch die Pillen wirken, die ich jetzt bekomme". Die Placeboeffekte ließen sich nicht nur subjektiv in einem besseren Schlaf, sondern auch im EEG nachweisen.
Das sind nur erste Ergebnisse mit kleinen Patientengruppen, die weiter bestätigt werden müssen. Aber sie deuten an, was in Zukunft möglich ist. Die Placebo-Forscherinnen und -Forscher fordern daher, den medizinischen Nachwuchs schon in der Ausbildung stärker als bisher über Placebos aufzuklären. Und sie bieten Kurse an, in denen Ärzte lernen können, wie man den Placeboeffekt durch empathisches Verhalten verstärkt. Es gibt aber noch weitere Vorschläge.
Nocebo-Effekt: negative Erwartungen schränken Wirkung von Behandlung ein
Placebo-Forscher wissen, dass negative Erwartungen den therapeutischen Effekt von Medikamenten einschränken können. Das ist der sogenannte "Nocebo-Effekt".
Die renommierte Schmerz- und Placebo-Forscherin Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Essen will den Nocebo-Effekt, der durch die Nebenwirkungsliste der Beipackzettel hervorgerufen werden kann, reduzieren. Sie unterstützt die Idee, Patienten genauer als bisher darüber aufzuklären, was ein Medikament wirklich kann. Dann würden viele von ihnn vielleicht auch nicht mehr im Internet herumsurfen und dort unter Umständen auf falsche oder erschreckende Informationen stoßen, die den Heilungsverlauf belasten und erschweren.
Die Vorschläge der Placebo-Forschung klingen bisweilen unkonventionell. Aber die Ergebnisse ihrer Studien sind inzwischen so überzeugend, dass es fatal wäre, wenn der Placeboeffekt im Gesundheitssystem nicht stärker berücksichtigt werden würde.
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