Selbst die Generation, die mit digitalen Medien aufgewachsen ist, klagt über digitalen Stress bei der Arbeit. Welche persönlichen Strategien helfen – und wo müssen Unternehmen umdenken?
Gesundheitliche Beschwerden durch digitalen Stress
Bei 50 E-Mails an einem Arbeitstag wird man im Durchschnitt alle 9 Minuten unterbrochen. Aus Experimenten weiß man, dass es etwa zehn Minuten dauert, bis der Anlass verarbeitet und die Konzentration wieder da ist. Poppt kurz danach schon wieder die nächste Mail oder Messenger-Nachricht auf, hat man schnell das Gefühl, überhaupt nicht mehr konzentriert arbeiten zu können.
So kann es zu Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten kommen, auch zu Verdauungsproblemen, Schwitzen, erhöhtem Herzschlag – solche Symptome sind typisch für einen erhöhten Cortisol-Spiegel.
Digitaler Stress sei deshalb ernst zu nehmen, sagt Henner Gimpel. Er ist Professor für Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Augsburg und Mitglied der Fraunhofer Projektgruppe für Wirtschaftsinformatik. 2018 hat er die erste repräsentative Umfrage zu digitalem Stress vorgelegt. Dafür befragte er mit seiner Arbeitsgruppe mehr als 2.500 Beschäftigte.
Probleme in allen Berufsgruppen – vor allem bei jüngeren Menschen
Es stellte sich heraus, dass digitaler Stress bei allen Tätigkeiten vorkommt und überall ein ähnlich hohes Level erreichen kann. Egal ob die Menschen im Baugewerbe arbeiten oder in der Verwaltung, ob sie Führungskräfte oder angelernt sind. Die Altersgruppen unterscheiden sich beim digitalen Stress hingegen deutlich – allerdings anders, als es die Forscher erwartet hatten.
Denn warum ausgerechnet diejenigen am stärksten gestresst sind, die mit digitalen Technologien aufgewachsen sind, lässt sich mit den Umfrage-Daten nicht eindeutig erklären. Henner Gimpel vermutet, dass unter den 25- bis 34-Jährigen besonders viele an stark digitalisierten Arbeitsplätzen arbeiten, an denen sie es mit besonders vielen digitalen Geräten, Diensten und Programmen zu tun haben und die Arbeit oft sehr verdichtet ist.
Stressauslöser: Unsicherheit im Umgang mit der digitalen Technik
Eine weitere Überraschung ergab sich beim Ranking der digitalen Stressoren. Die Forscher hatten angenommen, dass die Unterbrechungen und die ständige Erreichbarkeit über Smartphones und Laptops die Menschen am stärksten stressen würden. Tatsächlich rührt digitaler Stress am häufigsten daher, dass sich die Beschäftigten im Umgang mit digitaler Technik unsicher fühlen.
Keine Erholungsphasen fürs Gehirn
Wenn zusätzlich jede Minute ausgefüllt ist und Software die Routinearbeit übernimmt, fehlen dem Gehirn Leerlauf- und Erholungs-Phasen bei der Arbeit. Dazu kommt, dass Unternehmenssoftware meist darauf ausgerichtet ist, die Arbeit produktiver zu machen. Wenn Arbeitsschritte länger dauern oder Arbeit anfällt, die nicht von der Software erfasst ist, geraten Beschäftigte oft in einen Teufelskreis.
Arbeitgeber stehlen sich aus der Verantwortung
Dass Unternehmen grundlegend über die Qualität der Arbeit nachdenken, ist selten. Auch bei der psychischen Gefährdungsbeurteilung, die Unternehmen regelmäßig vornehmen müssen, spielt der digitale Stress noch kaum eine Rolle. Vielmehr erklären ihn viele Unternehmen und Vorgesetzte zum persönlichen Problem.
Lösungsansätze: Mitarbeiter mehr unterstützen und einbeziehen
Aus Sicht von Henner Gimpel von der Universität Augsburg ist das ein Fehler. Er hielte es für viel produktiver, wenn sich die Unternehmen dem digitalen Stress stellen würden. Dazu gehört für ihn, dass sie bessere IT-Helpdesks einrichten und die Mitarbeiter zu Rate ziehen, wenn sie neue Software, Geräte und Dienste einführen wollen.
Außerdem empfiehlt er, den Mitarbeitern mehr Rechte an ihren Computern einzuräumen, damit sie ihren digitalen Arbeitsplatz individueller gestalten können. Noch sieht er all das nicht. Dabei ist klar: Wenn auch Digital Natives angeben, von der Arbeit digital gestresst zu sein, wird das Phänomen nicht so schnell verschwinden.
Strategien zur Bewältigung der E-Mail-Flut
Bei der täglichen Bewältigung des E-Mail-Verkehrs sind klare Absprachen hilfreich. Je nach Unternehmen könnten z.B. folgende Vereinbarungen getroffen werden:
- Jeder darf E-Mails schreiben, wann er will.
- Wann der Empfänger die E-Mail liest, entscheidet er selbst.
- E-Mails, die man nur in Kopie erhält, muss man gar nicht lesen
- Für dringende Fälle gibt es eine Notruf-SMS, auf die der Empfänger innerhalb von 24 Stunden reagieren muss.
Und schließlich lässt sich die automatische Benachrichtigung ausschalten, sodass nicht bei jeder eintreffenden Mail ein Fenster aufploppt und Druck erzeugt, die Mail gleich lesen und beantworten zu müssen.
SWR 2019
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