Erst entwickelte Andrej Sacharow (1921 - 1989) die sowjetische Wasserstoffbombe, dann wurde er zu einem der berühmtesten Menschenrechtler in der Sowjetunion.
Andrej Sacharow: einst weltberühmter Menschenrechtler
Andrej Sacharows Leben und Wirken ist ein eindrückliches Zeugnis für die Art, wie sich ein Einzelner wandeln kann. Aber auch ein Beleg dafür, wie schwer es ist, sich in einer Diktatur zu behaupten. Doch Biografien, Artikel über Andrej Sacharow oder gar Schulmaterial für die politische Bildung anhand seines Beispiels sucht man in Deutschland meist vergebens. Der einst weltberühmte Menschenrechtler Andrej Sacharow ist in Deutschland praktisch vergessen.
Sowjetische Dissidenten lösten in Westdeutschland Unbehagen aus
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann schreibt und forscht seit über drei Jahrzehnten zu Freiheitskämpfern wie Andrej Sacharow. In gewisser Weise wurde auch Sacharow Opfer des Unbehagens mit sowjetischen Dissidenten, das in Westdeutschland sehr ausgeprägt war, meint sie. Ganz anders als in Frankreich. In Paris war das Anliegen der Dissidenten präsenter und es wurde breit debattiert, so Ackermann.
Genialer Physiker: Sacharow soll im Kalten Krieg Nuklearwaffe entwickeln
Geboren wird Andrej Sacharow am 21. Mai 1921 in Moskau. An der Universität fällt Sacharow schnell als genialer Physiker auf. Daraufhin leitet 1950 der damals 29-Jährige eine ganze Forschungsgruppe in einer geheimen Stadt in der Nähe von Moskau. Aus Geheimdienstquellen wissen die sowjetischen Physiker nur, dass die Amerikaner an der Wasserstoffbombe arbeiten. Die Sowjetunion ist vom Krieg gebeutelt, die Parteiführung in den letzten Lebensjahren Stalins unberechenbar. Unter diesen Umständen soll Andrej Sacharow eine wissenschaftliche und technische Spitzenleistung erbringen: Die Entwicklung einer transportablen, thermonuklearen Waffe.
Erste Wasserstoffbombe ist 100 Mal stärker als die Hiroshima-Atombombe
Am 22. November 1955 wirft ein Bomber über der Steppe von Kasachstan den Prototyp der ersten Wasserstoffbombe ab. In 1.500 Metern Höhe zündet sie wie geplant. Sie ist über 100 Mal stärker als die Hiroshima-Atombombe. Und sie ist das Werk von Andrej Sacharow.
Sicherheitsgründe: Kaum jemand kennt Sacharows Gesicht
Wasserstoffbomben mit ungeheurer Sprengkraft werden zur militärischen Grundlage für die Supermacht Sowjetunion. In den 1980er-Jahren wird die Sowjetunion über 40.000 solcher Sprengköpfe haben – und damit den ebenfalls aufrüstenden USA die Stirn bieten. Dieses nukleare Imperium hat Andrej Sacharow mit geschaffen. In der Sowjetunion ist er ein Held – allerdings aus Sicherheitsgründen nur insgeheim. Niemand kennt sein Gesicht, kaum jemand seinen Namen. Mit 32 Jahren wird Sacharow Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Auszeichnungen und Privilegien folgen.
Doch Ende der 1960er-Jahre beginnt Andrej Sacharow zu zweifeln. Es ist der 1. Mai 1968, kurz vor seinem 47. Geburtstag. Die sowjetische Führung demonstriert zur traditionellen Mai-Parade Geschlossenheit und Härte nach innen und militärische Macht nach außen.
Andrej Sacharow beeindrucken die Soldaten, die Panzer und Waffen nicht. Er sieht die Unfreiheit und Willkür im Land, die Auswirkungen der politischen Unterdrückung und der Zensur. Menschenrechte gelten nicht, es gibt zahlreiche politische Gefangene.
Verrat: Schreibkraft übergibt dem KGB heimliche Denkschrift Sacharows
Meist abends schreibt Sacharow heimlich an einer Denkschrift "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit". Es ist ein Appell der Vernunft. Sacharows Text enthält klare Forderungen an die Sowjetführung:
- Kriegsgefahr bannen
- friedliche Koexistenz vertiefen
- Umweltschutz
- politische Gefangene freilassen
Aber besonders geht es ihm um den freien Austausch von Informationen.
Im April 1968 gibt er das Manuskript einer Schreibkraft, die es sofort an den Geheimdienst KGB weiterleitet und ihn verrät.
New York Times publiziert Sacharows Text
Im Juli 1968 allerdings erscheint Sacharows Text in der New York Times – unter seinem richtigen Namen Andrej D. Sacharow, Physiker, Akademiemitglied. Sacharows Analysen über Frieden, die Bedrohungen der Welt durch thermonukleare Kriege, Hunger und diktatorische Regime machen ihn sofort weltbekannt.
Sacharow bricht 1973 öffentlich mit der kommunistischen Idee
Sacharow erklärt 1973 seinen Bruch mit der kommunistischen Idee. Öffentlich. In Interviews mit westlichen Medien. Über westliche Radiosender gelangen seine Aussagen in die Sowjetunion zurück. Gestört zwar. Aber hörbar. Sacharow macht keine Kompromisse mehr. Auf die Frage, worin er den größten Mangel in der heutigen sowjetischen Gesellschaft sieht, antwortet Andrej Sacharow:
Friedensnobelpreis und Verbannung nach Gorki
Die Entwicklung geht Schlag auf Schlag: 1975 wird Sacharow der Friedensnobelpreis zuerkannt. 1980 kritisiert er den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Die Folge: Verbannung nach Gorki. Erst 1986 darf er zurückkehren.
Und nun wollen ihn die Großen dieser Welt treffen: Präsidenten, der Papst. Deutsche Politikerinnen wie die Grüne Petra Kelly und Willy Brandt sprechen mit ihm in Moskau. Er setzt sich für Abrüstung und Umweltschutz ein, reist nach Frankreich, Italien, Japan und 1988 in die USA.
Sacharow: Verfassungsentwurf für Sowjetunion ohne Kommunistische Partei
Am 9. Juni 1989 tritt Andrej Sacharow im Volksdeputiertenkongress ans Rednerpult und sorgt für Tumulte im Saal. Beifall auf der einen Seite und wütende Rufe und Pfiffe von einer Vielzahl der Anwesenden. Andrej Sacharow fordert freie Wahlen und die Abschaffung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei, die Artikel 6 der Sowjetverfassung festlegt. Das hatte zuvor niemand öffentlich gefordert.
Der folgende, öffentliche Schlagabtausch mit Gorbatschow geht als Nachricht um die Welt. Gorbatschow will Sacharows Rede nicht dulden. Später wird Gorbatschow sich korrigieren und sagen, Sacharow ging im Juni 1989 zwar in die richtige Richtung: Aber es war zu früh.
Während einer Reise in die USA im Hochsommer 1989 schreibt Sacharow sein letztes Werk: einen Verfassungsentwurf für eine Sowjetunion ohne Kommunistische Partei an der Macht. Der Verfassungsentwurf ist Sacharows Vermächtnis, auch wenn er politisch unbeachtet bleibt.
Wiederentdecken lohnt sich
Am 14. Dezember 1989 stirbt Andrej Sacharow in seiner Wohnung an Herzversagen. Wenige Tage später kommen viele Tausende zu seiner Beerdigung. Sie rufen "Prosti" – verzeih uns, wir haben Dich zu spät verstanden.
Vielleicht ist heute, da die politischen Spannungen zwischen Russland und Europa spürbar zunehmen, ein geeigneter Zeitpunkt, um den Menschenrechtler Andrej Sacharow wiederzuentdecken.
SWR 2021
6.8.1945 BBC berichtet von Atombombe auf Hiroshima
6.8.1945 | Die BBC-Nachrichten informieren über den Atombombenabwurf auf Hiroshima. Der Bericht konzentriert sich auf die Bombe als technische Errungenschaft und auf ihre strategische Bedeutung. Ihre direkten Folgen werden mit keiner Silbe erwähnt. Über die Zahl der Todesopfer wird nicht einmal spekuliert. Sie finden keine Erwähnung.
9.8.1945 Präsident Trumans Radioansprache zur Atombombe auf Hiroshima
9.8.1945 | Nazi-Deutschland ist besiegt, Japan noch nicht. US-Präsident Harry S. Truman ist von der Alliierten-Konferenz in Potsdam zurückgekehrt. Im Rundfunk spricht er über das zerstörte Berlin und seine Vorstellung vom Wiederaufbau Deutschlands. Und er rechtfertigt den Einsatz der Atombombe in Hiroshima. Man habe so eine Militärbasis zerstört.
21.6.1985 Petra Kelly – Aushängeschild der Grünen
21.6.1985 | Petra Kelly war die Ikone der deutschen Friedens- und Anti-Atombewegung. Eine Grüne der ersten Stunde. Gründungsmitglied der Partei, mehrere Jahre Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete bis 1990. Hier ein ausführliches Interview mit ihr aus der SDR-Sendung „Von Zehn bis Zwölf“. Petra Kelly im Gespräch mit Moderator Rüdiger Becker. – archivradio.de
30.9.1989 Genscher in der Prager Botschaft und die Folgen
30.9.1989 | "Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen …" Außenminister Genscher verkündet den DDR-Flüchtlingen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag, "dass heute Ihre Ausreise …" – Der Rest ging im Jubel unter. Was wenig bekannt ist: Fast zeitgleich verkündet Staatssekretär Jürgen Sudhoff in der Botschaft von Warschau das gleiche – und auch von dort steigen noch in derselben Nacht tausende DDR-Bürger in einen Zug in die Bundesrepublik. | Am 31. März 2016 starb Hans-Dietrich Genscher
Afghanistan
Mittlerer Osten Afghanistan von der NATO allein gelassen – Angst vor Taliban und Bürgerkrieg
ARD-Korrespondentin Silke Diettrich war als einzige Journalistin dabei, als der letzte deutsche Flieger ausgeflogen ist. Jetzt nehmen die Taliban immer mehr Bezirke ein. Viele im Land machen sich große Sorgen – vor allem die Frauen. Von Silke Diettrich | Manuskript, Bildergalerie und mehr: http://swr.li/afghanistan | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Twitter: @swr2wissen
Mahsa Amini
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. "Frauen, Leben, Freiheit": Schreibt der Iran gerade feministische Weltgeschichte?
Eine junge Frau ohne Kopftuch, die auf dem Dach eines Autos steht und „Tod dem Diktator“ ruft. Zwei Frauen, die ohne Kopftuch frühstücken gehen. Frauen, die gegen die allgegenwärtige Sittenpolizei protestieren. Noch vor kurzer Zeit wäre all das im Iran undenkbar gewesen.
Seit etwa zwei Wochen ereignen sich derartige Szenen in der Islamischen Republik immer wieder. Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei festgenommen wurde und später im Krankhaus starb. Die daraus entstandenen Proteste berühren einen Kernbestandteil der Islamischen Republik: die Pflicht für Frauen, ein Kopftuch zu tragen.
Schreiben die Frauen im Iran gerade feministische Weltgeschichte? „Ja“, sagt die Journalistin Natalie Amiri im SWR2 Podcast „Was geht - was bleibt“. „Denn auf den Straßen stehen Frauen, sie reißen sich das Kopftuch vom Leib, unter dem Beitrag von Männern und Frauen, sie verbrennen ihre Kopftücher, sie widersetzen sich der Sittenpolizei, die sie mehr als 40 Jahre lang diskriminiert hat, beleidigt, beschimpft, verhaftet und in Mini-Busse gezerrt und sie fertig gemacht hat. Die Frauen, die jetzt sagen: Wir machen nicht mehr mit.
Aber – so Amiri – das Regime schlage hart zurück. Die Frauen im Iran litten seit mehr als 43 Jahren, „ich habe nie so willensstarke Frauen wie die im Iran gesehen“, sagt Natalie Amiri. Feminist*innen auf der ganzen Welt sollten sich noch weitaus mehr mit den Frauen im Iran solidarisieren, ein Kopftuchverbot zum Beispiel in Deutschland lehnt Amiri jedoch ab: „Wenn wir hier in der Demokratie, in Freiheit Frauen verbieten Kopftücher zu tragen, wären wir nicht viel besser als die Islamische Republik.“
Die Politologin und Aktivistin Emilia Roig sieht die iranischen Proteste im Kontext eines weltweiten Feminismus: „Der Protest zeigt, wie tödlich das Patriarchat im Iran ist. “Auch in Deutschland gebe es Gewalt gegen Frauen, so Roig: „Alle drei Tage wird hier eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.“ Man müsse das Patriarchat „jeden Tag verlernen“, „wir müssen die unterlegene Position der Frauen verlernen und auch die binäre Geschlechtsordnung.“
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Host: Philine Sauvageot
Redaktion: Philine Sauvageot und Daniel Stender