Heinrich Böll, geboren am 21. Dezember 1917, hat mit seiner Literatur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kritisch begleitet. In seinem Frühwerk beschreibt er die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und entwickelt zugleich ein Schreiben, das die existentielle Verlassenheit des Einzelnen angesichts der Katastrophe thematisiert. Traumatisiert und auf der Suche nach Heimat sind bei Heinrich Böll nicht nur die Kriegsheimkehrer und Überlebenden, sondern auch die Sprache selbst.
Heinrich Böll kommt 1917 in Köln zur Welt und wächst in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Abitur hat er keine Gelegenheit, einen Beruf zu erlernen, denn bereits 1938 wird er zum Reichsarbeitsdienst und danach zur Wehrmacht einberufen. Vom ersten bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkriegs ist er Soldat, wird an verschiedenen Fronten eingesetzt und mehrere Male verwundet.
Als er im September 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft zurückkehrt, ist von fast jedem Punkt des Kölner Stadtgebiets der Dom zu sehen – denn der Rest ist weggebombt.
Alltäglicher Kampf
Wohnungsnot, Hunger und der tägliche Kampf ums Dasein bestimmen den Alltag. Heinrich Böll, seit 1942 verheiratet, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten und Schwarzmarktverkäufen durch. Heinrich Böll veröffentlicht kurze Texte in Zeitungen, bevor 1949 seine erste längere Erzählung unter dem Titel "Der Zug war pünktlich" erscheint. Das Buch wird von Publikum und Kritik kaum beachtet, denn es behandelt den Krieg – und davon will man in dieser schweren Zeit nicht allzu viel wissen.
Angesagt ist das Heiter-Beschwingte, das oberflächlich Unterhaltende. Doch Schriftsteller wie Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll oder Wolfgang Borchert thematisieren das in Trümmern liegende Deutschland – und die zerstörten humanistischen Ideale.
Dass Heinrich Böll Literatur nicht als Idyllenproduktion versteht, wird deutlich, als er 1950 seinen Erzählband "Wanderer, kommst du nach Spa …" veröffentlicht. Es wird sein erster größerer Erfolg. Die 25 zum Teil sehr kurzen Texte gehen auch heute noch unter die Haut.
Vergiftete Sprache
Neben dem britischen Autor Graham Greene, dem US-Amerikaner Ernest Hemingway und dem Franzosen Georges Bernanos wirken vor allem die russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wie Fjodor Dostojewski auf Heinrich Bölls Stil und Themenwahl ein.
Heinrich Böll findet nicht nur ein zerstörtes Land vor, sondern auch eine von Nazidiktatur und Krieg vergiftete Sprache. Zwölf Jahre wurden ihr durch Parolen, martialische Vernichtungsprosa und apokalyptische Tiraden das Gewissen geraubt. Dagegen setzt Heinrich Böll eine klare und realitäts-und alltagsnahe Sprache; mikroskopische Beobachtungen des alltäglichen Elends. Heinrich Böll geht es darum, Sprachempfindlichkeit wiederzuerwecken und für die Erbschaft des menschenverachtenden Vokabulars der NS-Zeit zu sensibilisieren.
Heinrich Böll ist kein Literat im Eifelbeinturm. Er will eingreifen in das gesellschaftliche und politische Geschehen der jungen Bundesrepublik Deutschland. Im langsam beginnenden Wirtschaftswunder, der konservativen Atmosphäre der Adenauer-Ära registriert er eine zunehmende Verdrängungsmentalität der Deutschen. Sie wollen sich nicht tiefer mit der Vergangenheit auseinandersetzen.
Geschäft ist Geschäft
In der Erzählung "Geschäft ist Geschäft" thematisiert Heinrich Böll den Unterschied zwischen denjenigen, die nicht vergessen wollen und können und denen, die nach dem Krieg zur Tagesordnung übergehen: der Schwarzhändler betreibt jetzt einen legalen Kiosk, das Geschäft floriert. Sein ehemaliger Kunde ist arbeitslos, arm und krank, er war Soldat und hat keinen Beruf gelernt. Der ehemalige Schwarzhändler will ihn nicht mehr erkennen.
Berühmt geworden ist diese Erzählung durch die Straßenbahn-Metapher: die einen springen rechtzeitig ab, lassen alles Schreckliche hinter sich und stürzen sich in die Jagd nach Besitz und Status, als sei nichts geschehen. Die andern bleiben sitzen, wie der einstige Soldat, der die Unterschiede schon bei Kriegsende unter den Kameraden konstatiert.
Die "Waschküchenwirklichkeit" ist die Sprache der Menschen von der Straße, mit der sie über ihre Geldsorgen, ihre tiefe Sehnsucht nach Solidarität und Mitmenschlichkeit reden. Heinrich Böll schreibt keine nur seiner Zeit verhaftete Literatur, sondern berührt Themen, die in allen Epochen bewegt haben.
Kritik an der Kirche
Nach der längeren Erzählung "Wo warst du, Adam?", die 1951 erscheint, kommt zwei Jahre später der Roman "Und sagte kein einziges Wort" auf den bundesdeutschen Buchmarkt. Es ist eine Geschichte, die wie kaum eine andere Heinrich Bölls Verwurzelung im Christentum, genauer: in der katholischen Soziallehre ausdrückt. Erzählt wird von einem Kölner Ehepaar, dessen Wohnverhältnisse damals keine Seltenheit waren: während die Frau mit drei Kindern in einer kleinen Behausung lebt, wohnt der Mann in billigen Hotelzimmern, arbeitet als Telefonist bei der katholischen Kirche und trinkt zu viel. Das tief religiöse Paar trifft sich ab und zu in schäbigen Absteigen.
In den einzelnen Kapiteln erzählen abwechselnd die Eheleute Fred und Käte. Die Schwierigkeit, miteinander durch das Leben zu gehen, wird dadurch noch deutlicher. Jeder ist mit seiner Trauer in einer vereisten und fremdgewordenen Welt allein.
Dabei geht es Heinrich Böll nicht nur darum, eine verarmte Nachkriegsfamilie darzustellen. Die Ehetragödie dient ihm als erzählerisches Milieu, in dem die Ängste zur Sprache kommen, die allen Menschen innewohnen: welchen Sinn hat das Leben noch, wenn es nur ums Überleben geht? Gibt es so etwas wie Erlösung, hat die Liebe zwischen den Menschen überhaupt noch eine Chance?
Konfrontation mit Böll
"Und sagte kein einziges Wort" begründet Heinrich Bölls Ruf als streitbarer und unbequemer Kritiker sowohl der bundesrepublikanischen Gesellschaft als auch der katholischen Amtskirche, deren Mitglied er ist. Nach der Veröffentlichung des Romans geht sie auf Konfrontationskurs zu Heinrich Böll.
Bölls Gesellschaftskritik ist immer auch Sprachkritik. Gedankenloser Gebrauch der Sprache ist für ihn der sicherste Hinweis auf eine Gesellschaft, die gefühllos und intolerant vor allem mit ihren schwächeren Mitgliedern umgeht. Die gesellschaftliche und politische Realität der Bundesrepublik in den 1950er Jahren ist nicht nur geprägt von einem erstaunlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Sondern auch von einem gekonnten Ignorieren dessen, was wenige Jahre zuvor in Deutschland und Europa geschah.
In Serie produzierte Heimatfilme suggerieren nun eine heile Welt, der neue Kühlschrank ist wichtiger als die Tatsache, dass alte Nazis in Justiz, Wirtschaft und Politik längst wieder die Schalthebel der Macht bedienen. In dieser Atmosphäre wird Heinrich Böll zum "Nestbeschmutzer", als er 1954 seinen Roman "Haus ohne Hüter" veröffentlicht.
Worte als menschlicher Trost
Auch hier sind es wieder die von der Gesellschaft zum "Abfall" Erklärten, für die sich Heinrich Böll interessiert. Aus den Romanen "Und sagte kein einziges Wort" oder "Haus ohne Hüter" spricht die Desillusionierung Heinrich Bölls über eine immer egoistischere Welt.
Aber auch der Glaube an das, was er eine "bewohnbare Sprache in einer bewohnbaren Welt" genannt hat: Menschen, die sich mit Worten nicht verletzen, sondern trösten und helfen. Bereits in dieser frühen Phase seiner literarischen Arbeiten wird Heinrich Böll oft mit dem Vorwurf konfrontiert, ihm sei der moralisierend erhobene Zeigefinger wichtiger als die Literatur.
Solidarität ist für Heinrich Böll kein politischer Begriff, sondern eine Grundeinstellung des Menschen, die durch die sozialen Verhältnisse in Vergessenheit gerät und schließlich zerstört wird. Politik und Gesellschaft haben seiner Meinung nach die Aufgabe, ständig an diese Grundvoraussetzung zu erinnern. Dem Schriftsteller kommt dabei die Rolle zu, wachsam auf soziale Kälteströme zu reagieren und dabei auch notfalls etwas lauter zu werden.
Dabei sind Überzeichnung, Provokation und Polarisierung bewusste Stilmittel.
Frühe Konsumkritik
Die frühen Erzählungen und Romane Heinrich Bölls beschreiben den Menschen als ein Wesen, das mit Konsum und Kommerz allein nicht zufriedenzustellen ist. Es geht ihm darum, immer wieder an den Traum eines gelingenden Lebens zu erinnern. Den Zukurz- oder Zuspätgekommenen, den verkrüppelten Kriegsheimkehrern, den verwitweten Soldatenfrauen, die mit ihren bloßen Händen ein Land wiederaufbauen, von dem andere schließlich den Rahm abschöpfen, gilt seine Anteilnahme.
Im ersten Jahrzehnt seines literarischen Schaffens hat Heinrich Böll noch nicht viel von dem extrem streitbaren Intellektuellen, dessen hohes politisches Engagement ihm in den 1960er und 70er Jahren den Ehrentitel "Gewissen der Nation" einbringt. 1972 erhält er den Nobelpreis für Literatur.