Mendelssohns Repertoire für Cello und Klavier ist überschaubar. Zwei Sonaten, ein Variationenwerk, ein Lied ohne Worte und ein Albumblatt. Eine gute Stunde Musik. Sol Gabetta und Bertrand Chamayou haben sich die fünf Werke nun vorgenommen, und das Ergebnis ist sensationell. Wer jemals Vorbehalte gegen Mendelssohn hatte, wird sie hier verlieren!
Wird hier schön gesungen! So empfunden, so einfach und unverstellt. Ein „Lied ohne Worte“ von Felix Mendelssohn – und wenn er schon keine Worte braucht, wozu mache ich dann eigentlich welche? Wobei es viel zu sagen gibt zur großartigen neuen Aufnahme von Sol Gabetta und Bertrand Chamayou.
Ohne Kitsch!
Die Kunst bei Mendelssohn besteht darin, emotional nicht auf die Tube zu drücken. Denn dann wird‘s kitschig, was Mendelssohn überhaupt nicht ist.
Die argentinische Cellistin Sol Gabetta und der französische Pianist Bertrand Chamayou beherrschen diese Kunst. Ihr Mendelssohn-Spiel ist schlackenlos, völlig frei von allen Rührseligkeiten – einfach, indem sie die Musik wirklich ernst nehmen.
Ja, ja, ich weiß, dass sagen heute alle, dass sie keine Vorurteile gegenüber Mendelssohn haben; stimmt aber nicht. Denn dann würde er ja immer so hinreißend klingen, wie hier, was er nicht tut; so explosiv und impulsiv und mitten aus dem Leben gegriffen.
Gabetta und Chamayou verstehen sich blind
Was für ein Furor, was für ein nervöser, drängender, pochender Puls! Und welche Klangintensitäten dabei, was für ein Ton! Zu Beginn der zweiten Cello-Sonate von Felix Mendelssohn kann man besonders gut hören, wie blindlings sich Gabetta und Chamayou verstehen.
Sie gehen ins Risiko – gemeinsam; sie springen – weil sie wissen, der/die andere kann auch fliegen; und sie horchen genau hinein in die Rhetorik und die Farben der Musik, die eben auch mal richtig düster sein können. Und im zweiten Satz, im Allegretto scherzando – hat man je eine grimmigere Elfenmusik gehört?
Sol Dabetta zu Besuch im Brahms-Haus Baden-Baden
Bereits das dritte gemeinsame Album
„Mendelssohn“ ist das dritte Album, das Sol Gabetta und Bertrand Chamayou zusammen machen, und ausgerechnet mit Mendelssohns zweiter Cello-Sonate fing alles an, vor 18 Jahren.
Hier haben sich also zwei gefunden, sind einander auch treu geblieben, allen künstlerischen Wachstumsprozessen und Entwicklungsschüben zum Trotz. Oder gerade deswegen!?
Auch die Wahl der Instrumente reflektiert das: Gabetta spielt ein Stradivari-Cello und Chamayou ein Blüthner-Fortepiano – oder sie kombinieren ein Goffriller-Cello mit einem Steinway D.
Mit auf der CD: Zeitgenössischen Auftragswerke
Neben drei anderen zeitgenössischen Komponisten – Heinz Holliger, Jörg Widmann und Francisco Coll – ist Wolfgang Rihm dem Ruf Sol Gabettas gefolgt und hat ein Auftragswerk geschrieben, ein heutiges „Lied ohne Worte“ nach Mendelssohn.
Keine schlechte Idee, das 19. ins 21. Jahrhundert zu transferieren auf diese Weise – für mich aber hätte es das, bei allem Respekt, nicht gebraucht.
Vielleicht ist das „Lied ohne Worte“ doch eine etwas aus der Zeit gefallene Gattung; vielleicht ist Mendelssohns Kammermusik aber auch so stark, so frisch, so vital, dass man als Zeitgenossin des 21. Jahrhunderts gar nichts vermisst. Zumal bei solchen Interpreten nicht. Sol Gabetta und Bertrand Chamayou mit „Mendelssohn“ – fünf Punkte!
Album-Tipp Hörbare Seelenverwandtschaft: Bertrand Chamayou spielt Satie und Cage
Auf seiner neuen Solo-CD bringt Bertrand Chamayou Erik Satie und John Cage zusammen. Es ist Musik, die aus der Stille kommt und fasziniert.
Musikgespräch Die Cellistin Sol Gabetta
Vor etwa 20 Jahren eroberte die gebürtige Argentinierin Sol Gabetta die Konzertbühnen, der Beginn einer beispiellosen Karriere. Seitdem hat sie viel nachgedacht: über Klang, über Gestaltung, über Instrumente, über ihre Position in diesem kräftezehrenden Beruf. Dabei ist sie nach wie vor voller Energie und voller Begeisterung für die Musik.