CD-Tipp vom 25.05.2018
Man braucht nicht immer verschiedene Instrumente, um vielfältige Klangfarben zu erzeugen. Sänger zum Beispiel können mit ihrer eigenen Stimme ganze Gefühlswelten durchmessen und die unterschiedlichsten expressiven Nuancen zum Ausdruck bringen. Eine Meisterin dieser Disziplin ist die französische Sopranistin Sandrine Piau, die gemeinsam mit der Pianistin Susan Manoff eine neue Lied-CD veröffentlicht hat: „Chimère“ haben die beiden das Album genannt, mit Werken von Carl Loewe bis André Previn. Und weil eine Schimäre als Zwitterwesen für das Phänomen der Täuschung steht, enthalten die vertonten Gedichte allesamt eine gewisse Ambivalenz. Man weiß nicht so genau, was hier Sache ist, ob es um Leid geht oder um Glück … Wie zum Beispiel in Heinrich Heines „Dein Angesicht“, das Robert Schumann in Musik gesetzt hat.
Eine außerordentliche Aufnahme, und zwar nicht allein deshalb, weil die Französin Piau über ein absolut akzentfreies und idiomatisches Deutsch verfügt – auch das ist schon löblich. Aber was hier so fasziniert ist die Kunst, in die leisesten Klänge eine unglaubliche Spannung zu legen. Sandrine Piau produziert nicht nur schöne, vor sich hin dämmernde Töne – bei ihr hat jede Note etwas Lauerndes und latent Gefährliches, man muss immer fürchten, dass die Stimmung sogleich komplett umkippen könnte. Genau dieses Phänomen findet sich auch in Heines Versen, die unheimlich zwischen Liebe und Tod pendeln.
Glasklar und kristallin
Die Voraussetzung für Sandrine Piaus Kunst ist, technisch gesprochen, eine perfekte Beherrschung der Tongebung, des Atems, der Vokalfärbung und des Vibratos – Tugenden, die sie als geschulte Interpretin der Alten Musik natürlich verinnerlicht hat. Sie kann glasklar und kristallin singen, die Töne schweben lassen oder sie zu leichter Schwingung bringen. Und immer versteht sie es dabei, die Worte ganz delikat zu setzen. Diese Fähigkeit prädestiniert sie auch für die Interpretation von Hugo Wolfs filigranen Liedminiaturen.
Aber über die Pianistin Susan Manoff, die Piau begleitet, muss unbedingt auch ein Wort verloren werden: Die gebürtige New Yorkerin, die heute als Professorin am Pariser Conservatoire lehrt, schafft mit ihrem Spiel den Raum, das Weltgebäude, das Sandrine Piau dann durchwandern kann. Dabei begeht sie nicht den klassischen Fehler mancher Konzertpianisten, die sich als Liedbegleiter versuchen und sich dann nicht aus dem Schatten der Sänger heraustrauen, sondern lieber eine Art „Stille Post“ spielen und nur Klaviergeflüster hervorbringen. Manoff hat Mut genug, um auch mal zuzupacken. Zum Beispiel in Hugo Wolfs „Lied vom Winde“ versteht sie es wunderbar, den Sturm aufbrausen und ihn dann auch wieder abziehen zu lassen, wobei die Linienführung ihres Spiels ideal mit Sandrine Piaus Gesang verschmilzt.
Gelungene Gratwanderung
Natürlich haben die beiden auch Lieder aus Frankreich auf ihrer CD „Chimère“ eingespielt, zum Beispiel das erste Heft von Debussys „Fêtes galantes“. Oder Francis Poulencs „Banalités“ auf sehr witzige, zum Teil surreale Gedichte von Guillaume Apollinaire, die ebenfalls zwischen Wahn und Wirklichkeit pendeln. Doch, ob auf Deutsch, Französisch oder Englisch, wie z.B. in Samuel Barbers „Solitary Hotel“: Die Sopranistin Sandrine Piau interpretiert alle Lieder auf ihrem Konzeptalbum „Chimère“ unmittelbar aus dem Wort heraus, das selbst in den Kantilenen noch erkennbar bleibt. Ihr Gesang ist diskret, wenngleich mit einer Prise Exaltation gewürzt, als stünde sie kurz vor einem großen Gefühlsausbruch oder treibe ein Spiel mit dem Feuer. Dabei bleibt ihr Vortrag immer Liedkunst und wirkt nie opernhaft oder aufgesetzt – und diese Gratwanderung ist gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Sandrine Piau gelingt sie perfekt.
CD-Tipp vom 25.5.2018 aus der Sendung Treffpunkt Klassik - Neue CDs