Helmut Oehring
Ein Moment, unzählige Momente
"Dieser Krieg des Künstlers Goya ist weit mehr als der Guerillakrieg der Spanier und der Invasionskrieg der Franzosen, er ist die menschliche Vernichtung des Menschen schlechthin. Diese Radierfolge der Desastres de la Guerra, die in den Jahren 1810 bis 1816 entsteht, in Eile und Bedacht, in Direktheit und in Distanz, sie ist Goyas persönlichstes Eingreifen in den ungeheuerlichen Kampf, sie ist Abbild und Sinnbild, sie ist Spiegelbild und Vexierbild, sie ist Identifikation von Natur und Mensch als Inkarnation der menschlichen Natur, sie ist Identifikation von Geschichte und Kunst als Inkarnation der Gesellschaft. Sie ist die Abfolge realer Ereignisse als Abfolge irrealer Geschehnisse, sie ist Wirklichkeit und Traum in einem. Nichts entgeht dem Künstler, nichts beschönigt er, nichts verschweigt er, alles entlarvt er. Es ist die Aussage im denkbar umfassendsten Sinn, nicht gebannt in nur das eine Bild, das dann statisch wird, zeitlos und klassisch; ganz im Gegenteil: das künstlerische Geschehen ist zeitlos in umgekehrtem Sinne — es läuft immerfort weiter, es hält nicht bloß einen Augenblick fest, sondern unzählige Momente in rasanter Reihe. Es ist Dantes Inferno, nur nicht mehr abseits des Diesseits, sondern als das Diesseits selber; es ist nicht göttliche Strafe, sondern menschliches Tun. Es ist die Paraphrase des menschlichen Elends."
Konrad Farner, 1972
Einen Moment aus dieser "rasanten Reihe unzähliger Momente" Francisco Goyas nimmt Helmut Oehring zum Ausgangspunkt einer eigenen neuen Reihe "musikalischer Momentaufnahmen". Goyas Radierung Nr. 44 Yo lo vi (Das sah ich) bildet die Folie für vier Kompositionen – Orchestermusik, Oratorium, Streichquartett und Oper –, vier unterschiedliche "Filme in Musik", entwickelt aus Goyas Negativ: einer Szene aus dem Spanien der Napoleonischen Kriege, mit Flüchtlingen, darunter eine Frau und ihr Kind, den "zivilen Opfern" des Krieges. In Bild und Bildtitel stellt Goya die Frage nach dem Blick: dem Blick dessen, der die Schrecken hautnah erlebt; dem Blick dessen, der davon – künstlerisch oder wie auch immer – berichtet und dem Blick dessen, der durch diesen Bericht erinnert wird an das, was geschah und geschieht.
In GOYA I für Orchester, komponiert im Sommer 2006, blickt Helmut Oehring nicht nur auf Francisco Goya, sondern auch auf Ludwig van Beethoven. Beide, Maler wie Komponist, durch ihre in den 1790er Jahren erlangte Taubheit zunehmend isoliert innerhalb der jeweiligen Gesellschaft, in deren künstlerischem Zentrum sie stehen. Beide zerrissen im Zwiespalt: begeistert für die Ideen der Französischen Revolution, verkörpert und zugleich verraten in der Person Napoleon Bonapartes; eng verbunden mit ihren Völkern im Kampf gegen die revolutionären französischen Sendboten einer "freien" Welt. Beide stehen zwischen den Fronten. Beide sind auf der Suche nach neuen Strukturen, gesellschaftlich wie ästhetisch. Beide zitieren politische Inhalte in ihrer Kunst, malen und komponieren konkrete Momente, unzählige: Goya nicht nur in den Desastres de la Guerra, Beethoven nicht nur in der Eroica...
Zur Zeit arbeitet Helmut Oehring an GOYA II, dem "Memoratorium" Yo lo vi für Kinderstimme, männlichen Gebärdensolisten, Sprecher=Solo-Kontrabassisten, spanischen Gitarristen, E-Gitarristen, großes Orchester, großen Chor und Live-Elektronik. Ein Film aus Momentaufnahmen auch aus dem Spanien Goyas und dem Pablo Picassos, von Federico García Lorca, Hermann Kesten und Peter Weiss, von Miguel de Fuenllana, Diego Pasador, Manuel de Falla, Paul Dessau, Hans Werner Henze und Helmut Oehring. Goya II wird uraufgeführt am 11. Oktober 2008 in der Berliner Philharmonie als Auftragswerk des Deutschen Symphonie Orchesters und des Rundfunkchors Berlin unter der Leitung von Ingo Metzmacher.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2007
- Themen in diesem Beitrag
- Helmut Oehring, GOYA I - Yo lo vi für Orchester für Orchester unter Verwendung einiger Zitate von Beethoven
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