Donaueschinger Musiktage 2011 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2011: "zirckel / richtscheyt / felscher"

Stand
Autor/in
Andreas Dohmen
Peter Bromig (links) überreicht Andreas Dohmen eine Urkunde
Andreas Dohmen erhält den Preis des Orchesters für seine Komposition „zirckel/richtscheyt/felscher“.

1525 erschien Albrecht Dürers "Underweysung der messung" ("... Ein vnderricht alle mas zw endern..." ). Dürer beschreibt hier – detailverliebt bis ins Extrem – seine Techniken, mit Hilfe von zirckel und richtscheyt (Zirkel und Lineal) mechanistische Ableitungsverfahren bei seinen Zeichnungen zu erstellen. Verschiedene Messverfahren dienen ihm dabei dazu, diese immer graduellen, kontinuierlichen Ableitungsprozesse in Gang zu setzen, um auf diese Weise immer neue, transformierte Gestalten einer Ausgangsfigur zu erreichen: Dürer nennt sie felscher, zayger, zwilling …

In diesem Sinne ist eine stets prozesshafte Musik intendiert. Musikalische Materialien werden dabei immer wieder hörbar "abgemessen". Lineal und Zirkel funktionieren sowohl als Denkmodelle bei der Materialerstellung und Gestaltung von Prozessen, sind aber auch immer wieder als konkrete Texturen gedacht: Das in der Komposition angelegte Lineal wird hörbar als vordefinierte, deutliche Markierungspunkte während eines Prozessverlaufs. Gestalten/Strukturen/Materialfelder werden in verschiedene, zuvor abgemessene (Dauern-)Strecken eingepasst. Allmähliche Harmonikentfaltungen entwickeln sich, mit dem Zirkel gezogen, verkleinernd und vergrößernd, um sich verschiebende Zentren. Dichteverhältnisse/Ereignisdichten erfolgen graduell ausgerichtet, gereiht, auf verschiedenen Zeitlinien … Formalisierte Prozesse, mit Hilfe solcher Modelle einmal in Gang gesetzt, entwickeln (und es ist wohl dies, was mich am meisten an ihnen interessiert) – zumal wenn sich mehrere von ihnen überlagern – schnell Eigengesetzlichkeiten, scheinbar strikt "automatisiert" beginnende Prozesse einer Eigendynamik. Sie wuchern aus, verdecken die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten und legen sie, in transformierter Gestalt, wieder frei.

Eine zentrale Rolle nimmt dabei immer wieder die Komposition mit verschiedenen Geschwindigkeitsverläufen, mit verschiedenen Aggregatzuständen von Geschwindigkeiten ein, die in einem mehrschichtigen – oft widersprüchlichen – Verhältnis zu einander stehen. So spielen sich Prozesse auf einer "äußeren" Strukturschicht oft in einer überschnellen Geschwindigkeit ab, doch verläuft ein ihnen zugrunde liegender Prozess zugleich in extrem langsamer Geschwindigkeit – auch hier wieder felscher: langsame Auflösungen im überschnellen Tempo.

Stand
Autor/in
Andreas Dohmen