Durch den größtmöglichen aller Zufälle steckt im Terminus "stringendo" (der in der Musik ein allmähliches Beschleunigen des Tempos bezeichnet) das Wort "string", das im Englischen "Saite" bedeutet. An diese merkwürdige Kleinigkeit sollte man denken, wenn man den Titel dieses Werkes ausspricht. Es trägt zugleich den Untertitel "Erstes Streichquartett", was zweierlei bedeutet: Wenn alles gut geht, sollen weitere folgen, und das eine, das ich 1978 in meiner Studienzeit geschrieben habe, ist ab jetzt nicht mehr gültig.
"Stringendo" beginnt mit etwas, das wie eine Unordnung wirkt, innerhalb derer mehr als ein Dutzend kleine musikalische Elemente umherkatapultiert werden. Dieses thematische Durcheinander ist aber nur scheinbar eines, denn es ist nach einer präzisen "Grammatik" streng organisiert: Nacheinander tritt jedes der Elemente in den Vordergrund, um dann zu verschwinden. Je weiter der Anfang sich entwickelt, desto mehr vereinfacht sich das dichte Geflecht, um schließlich nur noch aus einem einzigen Element zu bestehen.
Nun folgen die statischen, unbewegten Sequenzen der "imaginären Metronome", zu denen die Elemente versuchen, wieder an die Oberfläche zu kommen. Aber diesmal wird ihr Auftauchen und Verschwinden nicht nach einer strengen Ordnung programmiert, sondern gehorcht einer Art von scheinbarer "natürlicher Auslese". Bestimmte Elemente verschwinden, andere setzen sich mithilfe nur eines einzigen Kriteriums durch: ihres inneren expressiven Potentials, oder jedenfalls mithilfe des Potentials, mit dem ich sie ausgestattet habe. Nach und nach dominieren schließlich zwei Elemente: eines aus raketenartigen Auf-und Abschwüngen und eine Melodie, die von einem Instrument zum anderen wandert und aus "crescendierenden" Klängen besteht, die wie ein altes, rückwärts spielendes Tonband klingen. Zunächst unabhängig voneinander präsentiert, werden diese beiden Elemente schließlich einander vervollständigen und zu einem Ganzen in einer phantastisch-verrückten Sequenz verschmelzen, zu spielen in einem sich steigernden …stringendo.
Am Ende trägt die Melodie in einer Art von kleinem unbewegten "Choral" den Sieg davon, wie versteinert auf einem einzigen Klang, der jeden Aufschwung zu einer Fortsetzung abbricht, so etwa die kleine Pizzicato-Musik, die kurz vor den Ende scheinbar entstehen will.
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- Philippe Manoury, Stringendo Erstens Streichquartett
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