Philippe Manoury
Ich habe Strange Ritual im Laufe des Winters 2005/06 in San Diego komponiert.
Das einsätzige Werk hat sich in meinem Kopf sofort als eine Art sehr freie Passacaglia dargestellt. Das "Motiv", das man gleich zu Beginn hört, sollte die gesamte Architektur dieses Stückes tragen. Doch in dem Maße, wie ich im Verlauf der Komposition neue Elemente in die Partitur einführte, geriet diese Basisstruktur schrittweise immer mehr in Unordnung und brach schließlich vollkommen zusammen. Daher der Titel des Werkes, Strange Ritual: Der regelmäßige, geordnete Prozess, der einem Ritual vergleichbar ist, wird durch das anarchische Verhalten bestimmter Elemente in Gefahr gebracht, die ihn schließlich zur Explosion bringen.
Da man mich gebeten hat, hier meine künstlerischen Überzeugungen auf ganz persönliche Weise zu formulieren, möchte ich an erster Stelle zwei Dinge zugleich nennen: Ich bin besessen von strengen Konstruktionen und zweifle zugleich daran, ob ihr ästhetischer Wert ausreichend ist. Ohne Zweifel kommt diese Dialektik zwischen dem "Gleichen" und dem "Anderen", dem "Homogenen" und dem "Heterogenen" bei mir zum Ausdruck. Es ist mir praktisch unmöglich, mit dem Komponieren anzufangen, ohne vorher einen Plan ausgearbeitet, Verlaufslinien, Richtungen und ein Minimum an Funktionen definiert zu haben, die ich dem musikalischen Material zuweise, das ich verwenden möchte. Aber alle Organisation kann für mich nur so etwas wie eine "Marschroute" sein, in der sich dann Verzweigungen, Gabelungen und Zufälle auftun werden. Ich zitiere dazu gerne einen Satz von Joyce: "Ein Zufall ist ein Tor, das sich auf neue Entdeckungen öffnet". Und um im Bereich der literarischen Bezüge zu bleiben, möchte ich auf Kafka und Borges verweisen, die mich stark beeinflusst haben: Welten darstellen, die alle scheinbar eine logische Ordnung mit ihren eng verknüpften Beziehungen besitzen, die sich aber, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, als Herausforderungen eben dieser Logik erweisen. Von der Konfrontation einer zeitlosen Ordnung mit der im Augenblick entstehenden Notwendigkeit lebt ein großer Teil meiner musikalischen Entscheidungen. Musik, die aus einem Prozess gemacht ist, der niemals auf die Notwendigkeit des Augenblicks trifft, ist nicht mein Fall, ebenso wenig freie Improvisationen, die niemals auf einen Prozess treffen. Ich webe an einem Tuch, das so organisch sein soll wie nur irgend möglich. Ich wünschte, ich könnte von meiner Musik sagen, dass sie wie das Leben sei, aber ich bin nicht sicher, ob das richtig verstanden würde. Jeder Augenblick unseres Lebens besteht aus einer Vielzahl von Entscheidungen und Zufällen, die zusammen in einem Augenblick einen generellen Sinn herstellen. Was ich Organizität nenne, ist nichts anderes als dieses Flechtwerk von Überlagerungen, Verästelungen und Wucherungen, von Netzwerken, deren Interaktion am Ende der Komplexität der Welt einen lesbaren Sinn verleiht. Wenn man ein Bild oder ein Foto aus großer Nähe betrachtet, sieht man darin irreguläre, chaotische Texturen, komplexe Strukturen, die keinen Sinn zu haben scheinen. Entfernt man sich, tritt eine Form zutage, in der das sie konstituierende Gewimmel von Details verschwindet. Musik muss Tiefe haben und zugleich Bedeutung. Sie soll im physischen Raum klingen, aber auch im mentalen Raum dessen, der sie hört.
Heutzutage ist die Bedeutung jeder Musik davon bedroht, sich in einer Kakophonie aufzulösen, die sie in identifizierbaren und gut verkäuflichen Kategorien organisiert. Man ordnet Musik in vordefinierte Genres ein, wobei noch zusätzlich "Cross over" und die "Mischung von Kulturen" angepriesen wird. Diese Mischungen sind dabei, selbst zu neuen Kategorien zu werden, in denen man sich allerdings nicht mehr frei bewegen, sondern höchstens noch Himmel und Hölle spielen kann. Die Welt der so genannten klassischen Musik gibt sich erbärmlich schlechten Aufführungen und der seligen Bewunderung von schwachen Imitationen großer Kunst der Vergangenheit gerne willenlos hin. Hollywood-Filmmusik wird uns präsentiert wie Symphonien von Brahms; große Interpreten "wagen" es, zwischen zwei Meisterwerke des Repertoires ein paar naiv-simple Musikstücke einzubauen und tun dabei so, als setzten sie sich mit ihrem Talent für die zeitgenössische Kunst ein. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um billige Stümperei! Aber wehe dem, dem das nicht gefällt! Unsere Zeit schätzt Komponisten, die in einem "Neo"-Stil schreiben, denn sie eignen sich vermutlich für die Teilnahme an dieser großen Verkaufsaktion. Weil das Repertoire nicht unendlich erneuerbar ist, müssen Substitutionsprodukte angeboten werden. Man hat es endlich dahin gebracht, die Kunst vollständig zu kategorisieren und auf jede mögliche Weise zu klassifizieren. Alles ist in perfekter Betriebsbereitschaft. Neulich, als ich meine eigenen Kompositionen in einem weit verbreiteten Programm abspeichern wollte, hatte ich es unterlassen, in der Rubrik, die das Programm mir dazu vorgeschlagen hatte, ihr "Genre" zu definieren, aber das Programm hat sich sofort von selbst für mich darum gekümmert. So konnte ich entdecken, dass meine Werke für Orchester, meine Opern und meine elektronische Musik unter verschiedenen Genres eingeordnet wurden, darunter Classical, Pop, R&B/Soul, Rock, Fusion, Alternative, Hip-Hop/Rap, World und so weiter. In dieser glorreichen, durchorganisierten, fehlerlosen Welt werden wirkliche Künstler nur noch als illegitime Kinder oder entfernte Verwandte betrachtet, die man nicht mehr anerkennen mag. Ihre Musik scheint keine Bedeutung zu haben angesichts dieser verwünschten Kategorien, deren Ziel es ist, Hörgewohnheiten zu festigen und fixieren; das ökonomische Überleben des gesamten Systems hängt davon ab. Was heute in einem nie gekannten Maße durchgeplant ist, scheint aber doch letztlich das Ergebnis eines langen Prozesses zu sein. Schon 1817 predigte Giacomo Leopardi (damals gerade 19 Jahre alt) – ich zitiere aus dem Gedächtnis – dass, um in Dichtung und Kunst wirklich schöpferisch neu zu sein, man die von allen akzeptierten Gebräuche, Gewohnheiten, Bezeichnungen und Gattungen durchbrechen, verletzen, verachten oder vollkommen vernachlässigen müsse.
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- Philippe Manoury, Strange Ritual für Ensemble
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