"geometria situs" ist ein lateinischer Begriff, der für die Topologie – eine Disziplin der Mathematik – geprägt wurde. Topologie hat sich um bestimmte Probleme der Raumlage formiert und beschäftigt sich mit all jenen Eigenschaften, die sich als unveränderlich erweisen, wenn man Räume und Figuren einer kontinuierlichen Verformung aussetzt. Objekte oder Figuren können topologisch äquivalent sein, obwohl sie sich in grundlegenden geometrischen Eigenschaften wie Krümmung, Winkelmaß und Länge unterscheiden. Manche ormen stellen eine intrinsische Äquivalenz dar, wie etwa eine Kaffeetasse oder ein "doughnut" (das ringförmige Gebäck bzw. eine "Ausgezogene") – Paradebeispiele, die jeweils ein einziges Loch besitzen. In der englischen Sprache heißt "topology" auch "flat sheet geometry".
Alle Spieler sind in meinem Werk autonom, spielen also unabhängig von den anderen Musikern eine Auswahl der Partiturseiten. Jede Seite weist einen langen, anhaltenden Klang auf, der allmählich seine Klangfarbe und Lautstärke verändert. Jede Änderung wird vom Dirigenten, der unregelmäßige Einsätze im Zeitablauf auszuwählen hat, angekündigt. Das Material wird ausgezogen und gestaucht, je nachdem, an welchem Ort in der Partitur sich die musikalischen Ereignisse befinden. Bei jeder neuen Aufführung kann das Material eine neue Struktur annehmen.
Sollte beispielsweise ein Posaunist seinen Dämpfer zwischen zwei vom Dirigenten gegebenen Einsätzen (in der Partitur die sogenannten "vertical cues"), die sehr eng beieinander liegen, wechseln müssen, so muss die Klangänderung sehr rasch vorgenommen werden. Bei Einsätzen, die weit auseinander liegen, wird dieselbe Klangänderung viel länger dauern. Das Stück stellt mein Interesse an modularen und offenen Formen dar, insbesondere in der Reihe "#[unassigned]", an der ich zwischen 2000 und 2009 arbeitete. Seit der Fertigstellung dieses Projekts habe ich ähnliches Material bearbeitet, obwohl ich neue Wege, mit denen die Schnittstelle zwischen den einzelnen Modulen strukturiert werden kann, gefunden habe – typischerweise eine kurze Stelle, bei der die unterschiedlichsten Klänge bzw. nur ein einziger langer Klang vorkommen. Oft werden Entscheidungen der Musiker eingearbeitet. In der Reihe "Klangbilder, die eventuell autonom gespielt werden können, die aber Teil des Ganzen sind" ("Divisions which could be autonomous but that comprise the whole", 2009) sind die Stücke als dazugehörige Werke zu verstehen und verwenden das gleiche Partitur-Format: einzelne Seiten, auf denen Klangereignisse, die eine variable Spieldauer zwischen etwa vierzig Minuten und einer Stunde und zwanzig Minuten aufweisen, abgebildet sind.
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- Themen in diesem Beitrag
- James Saunders, Geometria situs für Orchester
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