Virtuose Formenvielfalt

Die neuen Kurzgeschichten von George Saunders

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte

Stories aus einer Welt, die aus den Fugen geraten ist: Booker-Preisträger George Saunders erzählt in „Tag der Befreiung“ direkt aus den Köpfen seiner beschädigten Figuren. So düster die Erzählungen sein mögen: Alle Texte sind auf unterschiedliche Weise überraschend. Wer erfahren möchte, was in der vielfältigen Kunst der Kurzprosa heutzutage möglich ist, kommt an Saunders nicht vorbei.

Was zeichnet die „Stories“ von George Saunders aus? 

Die mal sehr kurzen und dann wieder etwas längeren Geschichten sind – und das wird auch in der wirklich brillanten Übersetzung von Frank Heibert deutlich – auf jeweils unterschiedliche Art und Weise überraschend, und zwar sowohl formal als auch inhaltlich. Nichts ist in dieser Kurzprosa erwartbar. Vielleicht gibt es eine düstere Grundstimmung, die sich durch alle Erzählungen zieht. Manchmal überrascht der Autor aber auch mit groteskem Humor.

Eine Story beginnt folgendermaßen: „Sie war klein und schmächtig, und ihre Augen waren dunkle Perlen auf beiden Seiten einer schnabelartigen Nase.“ Da will man doch wirklich wissen, wie es weitergeht. Saunders erfindet mit jeder Story ein neues Setting, neue Figuren und neue Erzählprämissen.

Wie drückt sich die Formenvielfalt konkret aus?

Das Buch beginnt mit der Geschichte über einen Großvater, der in einem Liebesbrief an seinen Enkel eine bittere Bilanz seines Lebens zieht. Der Mann scheint in einem dystopischen Überwachungsstaat zu leben, deshalb werden die Namen in dem Brief auch nur abgekürzt erwähnt. Dieser Brief ist eine kompromisslose Selbstkritik und auch eine Klage über das Versagen der eigenen Generation, die aktuelle Missstände nicht hat verhindern können.

„Tag der Befreiung“ im Juni auf Platz 3 der SWR Bestenliste:

Was genau in der Gesellschaft schiefgelaufen ist, wird im Detail nicht beschrieben, aber wir alle können uns vorstellen, was gemeint ist, und damit hat der Großvater diesen Brief auch an uns alle geschrieben. Da lesen wir zum Beispiel die Zeilen:

Ich wünsche mir von ganzen Herzen, wir hätten Euch alles intakt weitergeben können. Wirklich. Aber das sollte nicht sein. Dieses Bedauern werde ich in mein Grab nehmen.

Die letzte Story in dem Band könnte überall und zu jeder Zeit spielen, wirkt auf den ersten Blick fast harmlos. Es geht um einem kranken Mann, der sein Haus zum Verkauf anbietet.

Ein potenzieller Käufer besichtigt die Immobilie, gibt sich betont freundlich, zögert aber einen Moment zu lang, als der Verkäufer von seinem „Paradies“ spricht, das er auch künftig besuchen wolle. Der Deal scheitert aus unerklärlichen Gründen.

Der Erzähler schreibt dem Immobilienbesitzer erst freundliche, dann verzweifelte Briefe. Am Ende erhält das Warten auf eine Antwort eine biblische Dimension. Ein literarisches Meisterwerk auf wenigen Seiten.

Zur Titelgeschichte: Worum geht es in „Tag der Befreiung“?

Wenn man das in wenigen Sätzen erklären könnte! „Tag der Befreiung“ ist die längste, komplizierteste und auch merkwürdigste Story des Bandes, und nach 20 Seiten hatte ich keine Ahnung, worum es eigentlich geht. So viel steht immerhin fest: Es gibt einen Ich-Erzähler namens Jeremy, der als quasireligiöses Medium in der vermutlich durch künstliche Erzählintelligenz gesteuerten Familie Untermeyer auftritt.

Die obskure Familie lädt zu regelmäßigen Abendgesellschaften ein, die eine berühmte Schlacht des amerikanischen Bürgerkriegs nachstellt. In Form eines Reenactments soll die legendäre Niederlage von Generalmajor Cluster wieder aufleben, möglichst detailgetreu, doch die digitalen Erzählsklaven werden plötzlich von einer terroristischen Befreiungstruppe befreit.

„Bewaffnete junge Männer und Frauen mit weißen Beanies unter den hochgeschlagenen Kapuzen“ verkünden Todesurteile und Freisprüche – und damit fallen Spiel, Fiktion, Realität in eins. Befreit werden will niemand, nur der Erzähler, der sich „Künder“ nennt, zweifelt schließlich an seiner Rolle.

So bizarr die Geschichte ist, man merkt mit jeder Zeile, wie wahnwitzig genau sie komponiert ist und wie präzise sie die bedrohliche Stimmung in den USA einfängt, in der die politischen Lager unversöhnlich gegenüberstehen.

Was kann diese Literatur?

Die literarische Virtuosität der Geschichten von George Saunders besteht darin, dass der Schriftsteller direkt aus den Köpfen seiner oft ratlosen Figuren erzählt. Die Welt, von der Saunders erzählt, ist aus den Fugen geraten. Sie ist uns nah und fern zugleich. Die gesellschaftlichen Krisen der USA, die Verheerungen trumpistischer Politik wirken sich längst auf den Alltag aller Menschen aus.

Ob es um einen katastrophalen Muttertag geht oder um eine bittere Mobbinggeschichte, ob die Stories in einer realistischen Weise oder in einer nahezu unverständlichen Kunstsprache vorgetragen wird – keine Story gleicht der anderen. Wer erfahren möchte, was in der vielfältigen Kunst der Kurzprosa heutzutage möglich ist, kommt an Saunders nicht vorbei.

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