Buchkritik

Marion Poschmann – Chor der Erinnyen

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Marion Poschmanns Roman „Chor der Erinnyen“ erzählt die Geschichte einer Lehrerin für Mathe und Musik, die nichts dem Zufall überlassen möchte, aber mit unheimlichen Veränderungen zu kämpfen hat.

Mathilda muss nicht nur damit umgehen, dass ihr Mann sie fluchtartig verlassen hat. Aufdringliche Freundinnen, eine dominante Mutter, aber auch obskure Visionen bestimmen ihre Gedankenwelt. Schließlich brennt ein Wald.

Ein vielschichtiges, rätselhaft schönes Prosawerk über Bedrohungen der inneren und äußeren Natur. Ein Buch, das es nicht nur zu lesen, sondern auch zu studieren lohnt.

Mathilda ist Lehrerin für Musik und Mathematik. Zu den Schülerinnen und Schülern pflegt sie ein distanziertes Verhältnis. Sie möchte vor allem eine Autorität sein, die Wissen vermittelt. Während die Mädchen ihres Chors sich darüber freuen, auf der Bühne zu stehen, um eine theatralische Stimmung zu erleben, bleibt Mathilda grundsätzlich die rigorose Dozentin.

„Ihre Schützlinge trugen lange Gewänder und warfen leidenschaftlich das Haar zurück, während sie selbst versuchte, ihnen beizubringen, dass es für den großen Auftritt vor allem auf die musikalische Durchdringung des Stücks ankam, auf exakte Phrasierung, Atemführung, und beim Zusammenspiel als Erstes darauf, sich einzuschwingen auf die anderen.“

Diese hohen, nahezu wissenschaftlichen Ansprüche gelten für Mathilda in allen Lebensbereichen. Was nicht eindeutig und exakt ist, versucht sie aus dem Alltag zu verbannen. So hat sie auch seit Jahren nichts mehr in ihr Tagebuch geschrieben, weil ihr die schwungvollen, zunehmend krakeligen Buchstaben auf Papier nicht geheuer waren.

„Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Handschrift. Als eine der Ersten war sie auf Computer umgestiegen. In ihren Fächern Musik und Mathematik musste sie nicht sonderlich viel schreiben, die Korrekturen erforderten eher Ziffern und Symbole als Worte und Sätze, und es gab richtige und falsche Lösungen, keine Halbheiten, keine Ambivalenz.“

Bloß keine Zweideutigkeiten

Mit genau solchen Ambivalenzen aber wird sich Mathilda nun häufiger beschäftigen müssen. Es beginnt damit, dass ihr Ehemann plötzlich verschwindet. Sie meint, mit ihm stets in „ruhiger, unauffälliger Harmonie“ gelebt zu haben. Doch jetzt ist er ohne Erklärung „aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen.“

Die Verlassene redet sich tagelang ein, der Gatte werde schon bald wieder auftauchen. Doch nicht nur die eheliche Ordnung ist auf mysteriöse Weise gestört. Statt des Angetrauten taucht nämlich Birte auf, ihre missgünstige Kameradin aus Kindertagen. Und zwar nicht leibhaftig, sondern zunächst als Vision.

„Birte war schlank gewesen, beweglich, anmutig, jetzt wirkte sie abgemagert, ja ausgemergelt. Mathilda ging ihr entgegen, und je näher sie kam, desto mehr verlor Birte an Schärfe. Als sie selbst den Eingang erreichte, war Birte verschwunden.“

Fähigkeit zur Prophetie?

Kurze Zeit später steht Birte tatsächlich vor der Tür. Seit Jahren haben sich die beiden Frauen nicht mehr gesehen, und doch scheint Mathilda den überraschenden Besuch vorausgeahnt zu haben. Kann sie wirklich in die Zukunft schauen? Ausgerechnet sie, die Verfechterin der Rationalität?

Mathilda hört nun immer häufiger geisterhafte Stimmen, ist mit geflügelten Frauen aus mythischen Erzählungen konfrontiert. Gelten noch die Gesetze der Wissenschaft oder wird das Unvorstellbare real? Die Protagonistin könnte ihre alten Gewissheiten aufgeben, dennoch versucht sie, die unerklärbaren Phänomene zu rationalisieren. 

„Spukhafte Fernwirkung galt in der Quantentheorie als gesichert. Zwei Teilchen kommunizierten über ungeheuerliche Entfernungen miteinander und verhielten sich aufeinander bezogen, obgleich so etwas räumlich nicht möglich war, es sei denn, man gab das Lokalitätsprinzip vollständig auf. Mathilda hatte es augenblicklich eingeleuchtet.“

Marion Poschmann erzählt auf seltsam realistische Weise vom Unheimlichen. Ihr Roman „Chor der Erinnyen“ ist dabei als eine Art „Dialektik der Aufklärung“ angelegt, wie sie auch die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem gleichnamigen Werk beschrieben haben.

Der Grundgedanke besteht darin, dass im historischen Mythos auch eine Vernunfterzählung steckt und dass radikalisierte Aufklärung wiederum mythische Muster und irrationale Gesellschaftsverhältnisse hervorbringt. Mathilda ist ein literarisches Musterbeispiel für dieses Denkmodell, nur eben in anderer Reihenfolge: Gerade die strenge Rationalistin Mathilda wird Kräfte entdecken, die nicht mit wissenschaftlichen Formeln zu erklären sind.

Ihre Fähigkeiten, die Mathilda aus der Mythologie durchaus bekannt sind, stellen nicht zuletzt wegen der zerstörerischen Machtfülle eine große Gefahr dar, können aber auch Momente der Aufklärung enthalten. Die ambitionierte Musiklehrerin jedenfalls begreift allmählich, was mit ihr geschieht, und fühlt sich sogar beim Gesang ihres Mädchenchores an den Missklang der griechischen Rachegöttinnen erinnert.

„Von verführerischem Sirenengesang konnte keine Rede sein, eher näherten sie sich mit ihrem Gemaule und Geseufze dem grauenerregenden Chor der Erinnyen.“

Die griechische Mythologie bleibt nicht nur kultureller Echoraum in Poschmanns Prosa. Die Romanhandlung, die anfangs eher unspektakulär verläuft, steuert auf eine sagenhafte Eskalation hinaus: Mathilda wird Birte zu einer Wanderung mit Freundin Olivia mitnehmen, die eine Waldhütte samt Forstgebiet geerbt hat. Die drei Frauen sind sich alles andere als freundlich gesonnen, verhalten sich vielmehr unnachgiebig, neidisch und wütend.

So wie die Erinnyen in der griechischen Mythologie. Nichts ist dem Zufall überlassen in Poschmanns Literatur, selbst kleinere Verweise fügen sich in den bildstarken Gesamttext. Olivia etwa ist Expertin für Sepulkralkultur. Durchaus passend, wurden die Erinnyen in der Antike nicht nur als Kämpferinnen der matriarchalen Macht verstanden, sondern auch als Hüterinnen des Totenkults verehrt.

Der Tod ist ohnehin allgegenwärtig in diesem Buch. Birte fürchtet um ihr Leben, da die eigene Tochter sie mit einem Messer angegriffen hat. Mathildas Gedanken kreisen oft um den verstorbenen Vater. Vor allem aber scheint die Natur abzusterben; der Wald leidet unter der sommerlichen Hitze.

Der menschengemachte Klimawandel, Ausdruck eines falschen Verständnisses von herrschender Aufklärungs- und Ausbeutungslogik, wird schon bald zu einer Katastrophe mythischen Ausmaßes führen. Soll Mathilda, gewissermaßen mit der seherischen Kraft der spukhaften Fernwirkung, den Todesengel spielen?

Schließlich brennt der Wald

„Bei jedem Schritt raschelten knochenharte Nadeln, Ästchen zerknackten unter ihren Sohlen, das Laub hing schlaff am Stiel und bekam braune Ränder. Ein pathetischer Singsang in der Luft. Knisternde Kronen. Flüsternder Wind. Mathilda ging bis zum nächsten Kreuzweg und entschloss sich zu warten. Ein Funke, und der ganze Wald würde in Flammen aufgehen (…).“

Der Wald brennt schließlich nicht nur in der prophetischen Vorstellung, und Mathilda wird von seltsamen Schuldgefühlen heimgesucht, die sie seit Kindertagen plagen. Vieles wird in Poschmanns Roman nur angedeutet, manches bleibt rätselhaft, auch weil die Übergänge der verschiedenen Erzählebenen ansatzlos sind: Visionen wechseln sich mit hyperpräzisen Alltagsschilderungen ab. Aus inneren Monologen entwickeln sich mysteriöse Chorgesänge.

Der Roman, der sich gegen eine Tradition der extremen und naturvernichtenden Vernunft wendet, spielt stilbewusst mit inhaltlichen Unklarheiten: Welche Rolle nimmt überhaupt Mathildas Mutter in dem familiären Beziehungsgeflecht ein? Was ist mit Schwester Roswita, die zeitweilig nervenkrank in der Klinik liegt? Dabei eint alle Charaktere ein stupendes Unvermögen, friedlich und sinnerfüllt zusammenzuleben.

Das betrifft in diesem Roman vor allem die Frauenfiguren. So ist „Chor der Erinnyen“ auch als Parabel auf eine Weiblichkeit zu lesen, die über Generationen hinweg beschädigt, nämlich von männlicher Logik definiert wurde.

In so gut wie allen Epochen der Menschheit, in der Malerei und in der Literatur, in der Religion und in den unterschiedlichsten gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen wurde Frauen nämlich unterstellt, sie seien entweder Heilige oder Megären, Furien, Erinnyen. In Poschmanns Roman übt Mathilda stellvertretend für die Verschmähten nun Rache für diese Verleumdungen, indem sie ihr zugewiesenes Schicksal annimmt.

„Ja, sie strahlte etwas aus, was anderen unangenehm war. Man begann sie zu meiden, ein Fluch lag auf ihr, eine Schuld, mit der niemand in Berührung kommen wollte, eine Gewalt, die ihr Umfeld irritierte.“

Dunkel-schönes Prosawerk

Der „Chor der Erinnyen“ ist als „Parallelgeschichte“ zu Poschmanns Vorgängerbuch „Die Kieferninseln“ angekündigt worden. Darin ließ die Autorin einen Bartforscher, der sich von seiner Frau betrogen fühlt, nach Tokio abhauen.

Auch in dieser Geschichte kamen Wissenschaft und bürgerliches Leben an ihre Grenzen, nur dass hier vor allem männliche Sinn- und Identitätskrisen erzählt wurden. Der Bartforscher begriff erst spät, dass die meisten Japaner es vorziehen, sich täglich und äußerst penibel zu rasieren. Doch auch diese Reise war nicht umsonst. Der frustrierte Mann konnte einen lebensmüden Japaner vom Suizid abhalten und fand selbst in der Literatur kontemplativen Trost.

Der „Chor der Erinnyen“, gewissermaßen das weibliche Gegenstück, endet hingegen in großer Unruhe. Denkt man beide Bücher zusammen, droht die Dialektik der Aufklärung für Poschmann auf ein apokalyptisches Ende hinauszulaufen, wenn sich das Verhältnis der Menschen zur Natur, aber auch untereinander nicht grundlegend ändert. Demnach wird die Rettung der Welt weder mit den bekannten Mitteln männlicher Ausbeutungslogik noch mit kulturell verbrämter Passivität gelingen.

Das Schicksal der Erde wird sich aber auch nicht zum Guten wenden, wenn die rachsüchtigen Erinnyen die Kontrolle übernehmen. Gewaltfreie Geschlechterbeziehungen könnten vielmehr auch für eine planetare Zukunft entscheidend sein.

Poschmanns Bücher, die mit den Erkenntnissen mythologischer Erzählungen arbeiten, lassen sich somit als Werke einer anderen, herrschaftsfreien Aufklärung lesen – wie sie auch Adorno und Horkheimer im Sinn hatten. Mit „Chor der Erinnyen“ ist Marion Poschmann jedenfalls ein dunkel-schönes Prosawerk über Bedrohungen der inneren und äußeren Natur gelungen, ein Roman, der sich nicht nur zu lesen, sondern auch eingehend zu studieren lohnt.

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