Magda Quandt, die später Magda Goebbels hieß, war Hitlers Vorzeigemutter. Nora Bossong erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive von Hans, der schwul ist, aber mit Magda eine Affäre beginnt. Das literarische Portrait einer verblendeten Opportunistin und einer Gesellschaft auf dem Weg in den Faschismus.
Frühe Begegnung mit Magda Quandt
Von einem Friedhof stammt das Motto, das dem Buch vorangestellt ist: „Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr“. Etwas Bedrohliches geht von diesen Worten aus und legt sich als Grundstimmung über die ganze Lektüre. Der fiktive Ich-Erzähler Hans Kesselbach entführt uns in die Zeit zwischen 1919 und 1945.
SWR Bestenliste: Diskussion über den Roman „Reichskanzlerplatz“
In der Schule freundet er sich mit Hellmut Quandt an, dem Sohn des sehr wohlhabenden und einflussreichen Industriellen Günther Quandt. Bei ihm zu Hause lernt er auch Magda kennen, Hellmuts sehr junge Stiefmutter, die später in zweiter Ehe zu Magda Goebbels wird.
Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 Wenig Überraschung bei den Verlagen, dafür bei den nominierten Titeln
Zum 20-jährigen Jubiläum des Deutschen Buchpreises wählte die Jury diese Romane auf die Longlist. Unter den Nominierten sind bekannte Namen wie Nora Bossong und Michael Köhlmeier.
Feine Nuancen von Nora Bossong
Wie sich das gesellschaftliche Klima und mit ihm die Menschen in den 1920er allmählich verändert, das zeichnet Nora Bossong in sehr feinen Nuancen nach.
Psychologische Entwicklung verknüpft mit gesellschaftlichen Veränderungen
Wie in ihren früheren Büchern „Webers Protokoll“ und „Schutzzone“ schafft es Nora Bossong, die psychologische Entwicklung ihres Protagonisten mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu verweben.
Hans entdeckt seine homosexuellen Neigungen schon als Jugendlicher. Um der Strafverfolgung nach Paragraph 175 zu entgehen, pflegt er später auch sexuelle Kontakte zu Frauen. Als die Ehe zwischen Günther Quandt und Magda in die Brüche geht, wird er ihr Geliebter:
Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher
Die Autorin umschifft bei der literarischen Gestaltung der historischen Figuren erfolgreich jede Kitsch- und Cliché-Klippe. Täter bleiben Täter, Verbrecher, Verbrecher und zugleich werden sie zu Blaupausen für Persönlichkeitsentwicklungen, die weit bis in unsere Gegenwart reichen und die mit dem Ende des Nationalsozialismus keinesfalls untergegangen sind.
Stellvertretend dafür steht die Geschichte der Familie Quandt. Ihren Wohlstand hat sie im Ersten Weltkrieg begründet und in den Nazi-Jahren gnadenlos ausgebaut. Und bis heute gehört sie, wie Bossong am Ende schreibt, zu „den reichsten und wirtschaftlich mächtigsten Familien Deutschlands“. Was geschah etwa während der Wirtschaftskrise 1929?
Der Blick in die Vergangenheit erhellt unsere Gegenwart
Der Berliner Reichskanzlerplatz, der dem Roman den Titel gibt, heißt heute übrigens Theodor-Heuss-Platz und hieß von 1933 bis 1945 Adolf-Hitler-Platz. Dort lebte Magda Goebbels nach ihrer Scheidung von Quandt und brachte wohlhabende Industrielle mit Hitler in Verbindung.
Den schleichenden Prozess, in dem eine instabile Demokratie, erst allmählich und dann explosiv, auseinanderbricht und dann das daraus erwachsende faschistische Regime eine globale Katastrophe auslöst, schildert Bossong sehr eindringlich. Durch die Folie der Vergangenheit lässt sie uns unsere Gegenwart besser erkennen. Einfach grandios!
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Rezension von Lukas Meyer-Blankenburg.
Edition Suhrkamp,194 Seiten,16 Euro
ISBN: 978-3-518-12773-5