Buchkritik

Madame Nielsen – Mein Leben unter den Großen

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Ein Simplicius, der genau beobachtend durch den dänischen Literaturbetrieb stolpert und den großen Dichtern und Dichterinnen des Landes begegnet – so lässt die nichtbinäre Kunstfigur Madame Nielsen ihr jüngeres Alter ego auftreten. Abgründe des Tragikomischen tun sich auf. Wie in ihren Romanen treibt Madame Nielsen auch in diesen zwölf Geschichten das Spiel mit der eigenen Identität.

Ja, ja, der Literaturbetrieb. Wer je geschnuppert hat an dieser Mischung aus Geist und Geld, Gerüchten und Geltungsdrang, weiß, dass es um all das nicht so bedeutend bestellt ist, wie Bestsellerlisten und Nobelpreisverleihungen vermuten lassen.

Tatsächlich regiert hinter den Kulissen eher das allzu menschliche Klein-klein als der Gedanke ans Wahre, Schöne, Gute. Dieser Fallhöhe hat sich denn auch schon so manche Literaturbetriebssatire bedient. Wenn freilich jemand wie Madame Nielsen dieses Nähkästchen der Eitelkeiten öffnet und anfängt, einige Fäden herauszuziehen, darf man mehr erwarten.

Schließlich gilt Madame Nielsen als dänische Verkörperung der Idee der Kunstfigur schlechthin. Vor sechzig Jahren als Claus Beck-Nielsen geboren, hat sie in unterschiedlichsten Gestalten mit radikal avantgardistischen Aktionen Furore gemacht, weit über Dänemark hinaus.

Unter dem Namen Madame Nielsen ist sie seit 2014 nicht nur als Performancekünstlerin unterwegs, sondern auch als Autorin vermutlich biografisch inspirierter Romane, die ihre Leserschaft zugleich fesseln und verstören.

Ihr Geschichtenband „Mein Leben unter den Großen“ über Begegnungen im Literaturbetrieb ihres Landes sollte also mehr und anderes bieten als die übliche Demontage der verbliebenen Reste eines obsoleten Geniekults. Oder?

So sind die großen Autoren. Sobald sie die Gelegenheit haben, schenken sie einander ein signiertes Exemplar ihres neuen Buchs. Oder schlimmer: Sie schicken ein Widmungsexemplar mit der Post. [...] Und wenn man erst mal ein Buch eines der großen dänischen Autoren im Haus hat, kriegt man es schier unmöglich wieder los. Wo soll man denn hin damit?

Leider, so spinnt Madame Nielsen ihren Faden weiter, kann man es ja weder in die Altpapiertonne werfen noch ins Antiquariat bringen, denn in einem kleinen Land wie Dänemark besteht die Gefahr, dass der Autor es dort in die Finger kriegt und die eigene Widmung samt dem Adressaten liest, und das ist dann peinlich für alle Beteiligten.

Unendliche Gedanken- und Erzählfluchten

Solche Einfälle und Beobachtungen sind für sich genommen mäßig originell. Glücklicherweise fungieren sie in diesen zwölf Geschichten aber vor allem als Auslöser ins Unendliche reichender Gedanken- und Erzählfluchten. Sie wurden 2013 erstveröffentlicht, sind also entstanden, als Madame Nielsen noch Claus hieß.

Doch wie ihre späteren Romane „Der endlose Sommer“, „Das Monster“ und „Lamento“ treiben sie bereits das Spiel mit der eigenen Identität. Leitmotivisch greifen sie bestimmte Lebensdaten auf, um sie gleich wieder in Frage zu stellen: den Gang vom Land nach Kopenhagen, das Hungerkünstler-Leben in der ersten WG, eine gescheiterte Ehe, das Berlin der Nachwendejahre.

Dazu kommt allerlei Nonsens à la Hundescheiße als Katalysator radikaler Erkenntnis. Aber vielleicht ist das auch gar kein Nonsens, sondern tiefere Bedeutung. Bei Madame Nielsen weiß man ja nie.

In Dänemark weltberühmt

Allerdings sind die meisten der sogenannten Großen vor allem in Dänemark weltberühmt, was die Seitenhiebe für deutsche Leser zuweilen ins Leere gehen lässt.

Immerhin, die notorische Nielsen‘sche Mischung aus Perfidie und Menschenliebe macht auch vor hierzulande bekannten Namen wie Peer Hultberg, dem auratischen Allesversteher, und Peter Høeg, dem Fräulein-Smilla-Erfinder und umtriebigen „Alle-und-Alles-Könner“, wie es heißt, nicht Halt.

[...] da ich mit meinen fünf-, sechsundzwanzig Jahren noch nicht viel anderes gelesen hatte als Jungsbücher, Troels Kløvedahl und ,Ayla und der Clan des Bären‘, klang der Titel ,Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert‘ zunächst mal sehr anspruchsvoll.

Ein Buch von Peter Høeg. Das ist witzig. Leider gefällt sich die Erzählstimme ein bisschen zu sehr in der pseudonaiven Koketterie des selbsternannten Simplicius, der in dem ganzen Betrieb wie überhaupt im Leben ahnungslos herumstolpert.

Inger Christensen im Literaturhaus-Café

Neben den Gemeinheiten aber stehen Szenen von großer Zartheit. In der Erzählung „Die universale Großmutter“ etwa kontaminieren Details der Erinnerung an die eigene Großmutter eine Verneigung vor der nun wirklich großen Lyrikerin Inger Christensen, die als betagte Dame mit Handtäschchen an einem Tisch im Café des Berliner Literaturhauses beobachtet wird.

Ich fand, ich sollte etwas sagen, sie wenigstens grüßen, ihr danken für all das, was sie mir gezeigt hat, all das, was es gibt, dass es es gibt, und dass ich es sehen und festhalten soll auf die einzig menschenmögliche Art,

nämlich: in der Sprache,

die etwas ganz anderes ist, eine andere Welt, genau wie diese, die auch in einem langen und grausamen Prozess entstanden ist, sich verzweigt, geteilt und wiederholt hat auf alle möglichen und nicht zuletzt völlig unmöglichen Arten, eine Welt, die nicht sterben darf, sondern am Leben gehalten werden muss, rücksichtslos, kompromisslos, jedes Mal anfangen aus demselben beinahe Nichts, dem ersten kleinen Wort, das heißt: das.

Genaue Beobachtung der Einzelheiten, eine elastische Sprache, viel Wahres über die Tragikomik der Literaten, gepaart mit der ein wenig selbstgefälligen Position des tiefer blickenden Außenseiters – es bleibt ein zwiespältiger Eindruck von diesem Buch. Freude bereiten dürfte es vor allem den skandinavistisch informierten unter den Fans von Madame Nielsen.

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