Gibt es romantische Liebe im Kriminalroman? Ein Blick in Geschichte und Gegenwart der Kriminalliteratur zeigt: Vor allem Ermittler dürfen lieben. Andere Beziehungen haben kaum eine Chance. Aber das sollte sich ändern.
Es darf keine Liebespaare geben. So lautet eine der zwanzig Regeln, die der US-amerikanische Autor S.S. Van Dine im Jahr 1928 für Detektivromane aufstellt. In einem Detektivroman gehe es darum, einen Verbrecher vor Gericht zu bringen, nicht darum, ein verliebtes Paar vor den Traualtar zu führen, findet er.
Schon sieben Jahr später aber zeigt Dorothy L. Sayers in „Aufruhr in Oxford“, wie gut Liebe und Detektive zusammenpassen. Dieses Buch, das heute als einer der ersten feministischen Kriminalromane gilt, dreht sich um eine Frage: Kann die Schriftstellerin Harriet Vane ihrer Liebe zu Lord Peter Whimsey endlich nachgeben? Knapp 500 Seiten später wissen wir: Sie kann.
Kann ein Krimi zugleich ein Liebesroman sein?
Ein Detektivroman also, der zugleich ein Liebesroman ist. „Aufruhr in Oxford“ ist der zehnte Krimi um den Seriendetektiv Lord Peter Whimsey, der im England der Zwischenkriegsjahre rätselhafte Morde aufklärt. Das erste Mal begegnet er der schlauen Harriet Vane im fünften Band, aber erst fünf Bände später erwägt sie, einen seiner Heiratsanträge tatsächlich anzunehmen.
Ihre Bedenken gegen eine Ehe sind äußerst modern: Sie fürchtet um ihre Unabhängigkeit, glaubt nicht, dass Männer eine kluge Frau lieben können und dass eine gleichberechtigte Partnerschaft mit jemanden möglich ist, der sozial und ökonomisch über ihr steht – immerhin ist Peter ein Lord!
Eigentlich geht es darum, immer bösartiger werdende Streiche in Harriet Vanes ehemaligem College in Oxford aufzuklären. In den Vordergrund aber rückt die Frage: Kriegen sie sich – oder kriegen sie sich nicht?
Diese Frage stellt auch Robert Galbraith – das Krimi-Pseudonym von Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling. Und zwar in ihrer Reihe um den cleveren Privatdetektiv Cormoran Strike. Ihre Beantwortung aber zieht sie in ungeahnte Längen: Seit sieben Bänden – das sind rund 7000 Seiten – bahnt sich die Liebesgeschichte zwischen Strike und seiner Kollegin Robin Ellacott inzwischen an.
In Band 1 begegnen sie einander. Am Ende des 2023 erschienenen siebten Teils „Das strömende Grab“ haben sie die Machenschaften eine Sekte aufgedeckt – und endlich ist Robin bereit, sich wenigstens einzugestehen, was sie für Cormoran empfindet. Ob sie diesen Gefühlen nachgibt, bleibt ungewiss: Sie steckt ja bereits in einer Beziehung mit einem Polizisten. Jede Leserin weiß zwar längst, dass der nichts für sie ist. Aber diese Beziehung ist ein weiteres Hindernis auf dem Weg zum Happy End.
Wir stellen also fest: Ja, Detektiv*innen können einander lieben. Etwas anders sieht es im Krimi unter Figuren aus, die nicht ermitteln. Paare zum Beispiel bringen einander vorzugsweise um. Versuchen es zumindest – oder schieben einander Verbrechen in die Schuhe.
Überwiegend dysfunktionale Beziehungen in Kriminalromanen
Bekanntestes Beispiel: Gillian Flynns Bestseller „Gone Girl“. Ihre Hauptfiguren und Erzähler*innen Nick und Amy Dunne sind gewissermaßen das Posterpaar für dysfunktionale Beziehungen. Mit ihrem Ehedrama hat die Amerikanerin Gillian Flynn 2012 einen Trend entfacht, der bis heute anhält: Der Blick hinter die Fassaden perfekter Leben scheinbar glücklicher, gutsituierter Menschen offenbart eine Hölle aus Manipulationen, Gewalt und Obsessionen. Aus Liebe wird Psychokrimi.
Nicht durch Zufall kommt übrigens der Begriff „Gaslighting“ aus einem Krimi: 1938 erzählte das später verfilmte Theaterstück „Gas Light“ von einem Mann, der seine Frau mit gezielten Manipulationen in den Wahnsinn treibt.
Doch auch Gangster haben es schwer mit der Liebe: Oft sind sie die Einzelgänger ohne soziale Bindungen. In den 24 erfolgreichen Romanen, die der Amerikaner Richard Stark über den Profi-Räuber Parker geschrieben hat, wird noch nicht einmal sein Vorname enthüllt. Er ist ein Mann ohne Vergangenheit, ohne Familie und Freunde.
Verständlich: Liebe ist oft die Achillesferse für Gangster. Sie werden unvernünftig, erpressbar oder aufs Kreuz gelegt. Auch die Killerin Fiona weiß in Nick Kolakowskis schwarzhumorig-rasantem „Love & Bullets“, dass ihr Ex-Freund, der Betrüger Bill, ihr schwacher Punkt ist. Dennoch übernimmt sie den Auftrag, ihn zu töten, und steht dann gemeinsam mit ihm wie einst Bonnie und Clyde gegen den Rest der Welt, wozu auch psychopathische Killer und Gangstersyndikate zählen.
Romatische Liebe als „Arbeitsbeziehung plus“ unter Ermittlern
Blättert man durch die jüngere Krimigeschichte, zeigt sich also: Es gibt sie, die romantische Liebe im Krimi. Aber vor allem in Form einer „Arbeitsbeziehung plus“ unter Ermittlern. Der australische Krimi-Autor Garry Disher zeigt das auf beiläufige und deshalb umso beeindruckendere Weise: Seit drei Bänden hat Inspector Hal Challis in der nach ihm benannten Reihe eine Beziehung mit seiner Kollegin Ellen Destry – mit all ihren Alltäglichkeiten.
Sie müssen einen Weg finden, professionell zusammenzuarbeiten, aber fragen sich natürlich auch, was sie einander zu Weihnachten schenken. Dishers Geheimnis: Seine Buch-Reihe basiert nicht auf einer oder zwei Hauptfiguren. Sie ist multiperspektivisch angelegt. Während sich andere Figuren neu verlieben, kann sich die Beziehung zwischen den Ermittlern Challis und Destry in Ruhe weiterentwickeln.
Diese wohltuende Ausnahme im Krimi-Genre zeigt: Glückliche gleichberechtigte Beziehungen sind möglich. Und mehr noch: Es sollte viel mehr von ihnen geben. Geschiedene, einzelgängerische und sozial inkompetente Kommissare hatten ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren.
Der Typ „einsamer Wolf“ aber hält sich im Genre immer noch. Das ist erstaunlich, schließlich rühmt sich gerade der Kriminalroman doch oft mit seiner Realitätsnähe. Dazu gehört auch, dass Polizisten Menschen mit einem Privatleben sind. Sie haben Partnerschaften, Kinder und machen ihren Job.
So eine vermeintlich durchschnittliche Figur zu einem spannenden Protagonisten mit einem ehrlichen Liebesleben zu machen – das erfordert viel Können. Und Mut. Und genau davon könnte der Krimi noch mehr vertragen.
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