Die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger fordert EU-Grenzen, die beides zugleich sind: stabil und durchlässig. Von der „neuen Härte“ gegen geflüchtete Menschen hält sie nichts. Ein beeindruckendes Plädoyer für Mitgefühl und Empathie.
Judith Kohlenbergers Domäne ist die Migrationsforschung. Die „neue Härte“, die sie konstatiert, manifestiert sich in ihren Augen vor allem im Umgang mit geflüchteten Menschen:
Abschottung funktioniert nicht
Diese Brutalität, mit der sich das saturierte Europa das Elend der Welt vom Leib zu halten versucht, bringt gravierende Probleme mit sich, stellt Judith Kohlenberger fest. Zum einen funktioniert die Abschottung nicht – die Ankunftszahlen gehen nicht zurück – zum anderen verändert der offensive Mut zur Gefühllosigkeit auch die europäischen Gesellschaften selbst, so Kohlenberger, und zwar zu deren Nachteil:
Absolute Grenzenlosigkeit ist keine gute Idee
Judith Kohlenbergers Buch ist ein Plädoyer für menschliche Zugewandtheit, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neoliberalen Egozentrismus lehnt sie ebenso ab wie den neurechten Trend zur allumfassenden Fortifikation. Aber: Weichheit und grenzenlose Durchlässigkeit allein seien auch keine tauglichen Alternativen, betont die Kulturwissenschafterin:
Judith Kohlenberger formuliert in ihrem Buch ein demokratisches Grenz-Konzept. Statt Europa zur „Festung“ auszubauen, mehr noch als bisher, sollten die EU-Außengrenzen zum einen stabil sein, zum anderen aber Austausch und Fluktuation ermöglichen, etwa durch die Schaffung legaler Flucht- und Migrationsrouten:
Weder starr noch nachgiebig
Judith Kohlenberger ist überzeugt davon, dass sich Flucht und Migration deutlich besser managen lassen, als es die EU derzeit tut. Voraussetzung dafür sei allerdings eine „universalistische Empathie“. Von Abschottung und der aggressiven Abwehr von äußeren Einflüssen, wie es die Rechten und Rechtsradikalen fordern, hält Kohlenberger nichts.
Übrigens auch auf individueller Ebene nicht. Leben heißt durchlässig sein. Weder starr noch grenzenlos nachgiebig, sondern beides gleichermaßen: hart und weich zugleich.
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Die Todesroute – Quer durch den Darién-Dschungel
Giftige Tiere, gefährliche Strömungen, Verbrecherbanden: Der Darién Gap zwischen Kolumbien und Panama gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Im vergangenen Jahr haben den Dschungel rund eine halbe Million Menschen durchquert. Männer, Frauen, ganze Familien mit kleinen Kindern. Ihr Ziel: Die USA. Der Darién ist die einzige Landverbindung in Richtung Norden. Einheimische machen aus der Not ein Geschäft, kassieren bei den Migrant:innen ab. Auch das organisierte Verbrechen verdient mit. ARD-Korrespondentin Marie-Kristin Boese und ihr Team haben die Migrant:innen einen Teil der Strecke begleitet. Sie erzählt, dass Helfende die Pille danach an Frauen und Mädchen verteilen. Sicherheitshalber. Denn Vergewaltigungen und Übergriffe häufen sich.
Migration und Flucht sind auch in der EU ein großes Thema. Zehntausende Menschen begeben sich jedes Jahr aufs Meer, in klapprigen Boote – und in Lebensgefahr, um nach Europa zu kommen. In dieser Woche hat das EU-Parlament die Asylrechtsreform gebilligt. Dazu spricht Joana Jäschke mit der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien. Und ARD -Spanien- Korrespondentin Kristina Böker berichtet von der Solidarität auf der Kanaren-Insel El Hierro, wo viele Geflüchtete aus Westafrika ankommen.
Die Folge mit Kristina Böker im Tageschau-Podcast 11KM findet ihr hier: https://www.ardaudiothek.de/episode/11km-der-tagesschau-podcast/an-der-grenze-zwischen-asylreform-und-realitaet/tagesschau/13304381/
News und Hintergrund zur Asylrechtsreform: https://www.tagesschau.de/thema/asylreform, https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-darien-gap-die-todesroute-von-kolumbien-nach-panama-dlf-kultur-557baa81-100.html
Moderation: Joana Jäschke
Redaktion: Steffi Fetz
Mehr Literatur zum Thema Flucht und Migration
Buchkritik Donatella Di Cesare - Philosophie der Migration
Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen waren 2020 82,4 Millionen Menschen Flüchtlinge, einer von 95 Menschen auf der Erde. Tendenz stark steigend. Und die Staaten in aller Welt reagieren mit immer mehr Mauern, Zäunen, Grenzaufrüstung. 'Migration' ist die große politische Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Höchste Zeit, gründlich darüber nachzudenken, meint die römische Philosophin Donatella di Cesare.
Rezension von Anselm Weidner.
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz
Matthes & Seitz Verlag, 343 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-75180-317-5
Buchkritik Paul Scheffer - Wozu Grenzen? Freiheit in Zeiten von Globalisierung und Migration
Der niederländische Soziologe Paul Scheffer geht in seinem neuen Buch der Frage nach, wie Europa den großen Migrationsbwegungen begegnen soll.
Rezension von Holger Heimann.
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26445-8
236 Seiten
22 Euro