„Noch das Geringste kann Gedicht werden“: Das ist das Credo des Büchnerpreisträgers Jan Wagner. In seinem neuen Gedichtband zeigt er sich wieder einmal als großer Dichter der Welt der kleinen Dinge und des menschlichen Nahbereichs: Zwischen Steinen und dem Himmel liegt bei ihm eine unendlich reiche und reich verzweigte poetische Welt.
In der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2017 formulierte Jan Wagner sein poetisches Credo:
„Ich mache Verse aus der Überzeugung heraus, dass noch das Geringste zum Gedicht werden kann und, hat man Auge und Ohr, ein Gedicht die komplexesten Dinge in sich birgt, die Schönheiten wie die Dunkelheiten unmittelbar und sinnlich erfahrbar macht und dabei weder der Welt noch der Gegenwart den Rücken kehrt.“
Kein Zweifel, an dieses Bekenntnis, hat sich Jan Wagner immer gehalten und er tut es auch im neuen Gedichtband „Steine & Erden“.
Die Welt im Gedicht neu sehen und neu denken
Durch diese beharrliche Verpflichtung erscheint Jan Wagner darum wie ein konservativer Dichter, aber das ist nicht korrekt, weil, wie er sagt, „ein gelungenes Gedicht unwiderstehlich dazu einlädt , die Welt neu zu sehen und damit neu zu denken.“ Und das kann auch einem Panther passieren:
wie er mit unentrinnbar weichen pfoten
um ecken gleitet, während sein gebrüll
in allen knochen bebt; wie er den boden
mit jedem feinen riß darin wie braille
betastet und verinnerlicht, sein leib
mit allen gliedern schwärzer als ein barrel
von rohöl; räuberisch, ein alibaba,
der keine vierzig braucht und prall
von springbock und okapi zwischen gras
und schrott, in einer ecke des april
erneut erstarrt zu einem steifen kreis
aus schlaf, zu diesem reifen von pirelli
Nun denkt natürlich jeder bei „Panther“ an Rainer Maria Rilke, und Rilke ist einer mit dem Wagner gerne – wie auch mit Friedrich Hölderlin - sein lyrisches Spiel treibt, aber während Rilkes Gedichte zur Transzendenz streben, mal zu Gott, den Engeln, auf jeden Fall zu etwas Höherem, ohne es je zu erreichen, was genau zu dieser speziellen paradoxen Rilke-Spannung führt, ist Jan Wagner ein Dichter der Immanenz, der Welt der Dinge, des Nahbereichs.
Wir lesen beim Panther von Blindenschrift, also Braillle, von Rohöl, von Autoreifen, vom räuberbezwingenden Alibaba. Und dazwischen funkt auch noch der unbeständige April herum, dem der berühmte Dichter T.S. Eliot sein scharfes Urteil gewidmet hat, der April sei der grausamste Monat.
Viele Anspielungen könnte man meinen, Gelehrtenlyrik, aber man muss das alles gar nicht wissen, weil es nicht das ist, was Wagners Dichtungen antreibt. Das Gedicht führt uns in neue Zusammenhänge, verbindet Kulturelles mit Natur, Schrott mit Tieren, Märchen mit Technik. Und es geht dabei um mehr als um Metaphern oder Gleichnisse, um mehr als Artistik, obwohl Jan Wagner ein Virtuose verschiedenster Gedichtformen ist. Es geht um Verwandlungen. Der Panther ist Rohöl, ist Alibaba, und am Ende eben auch ein Pirelli-Reifen.
Wagners ästhetische Erkenntnislehre: nichts ist dem anderen fremd
Hinter dieser ästhetischen, man müsste fast sagen, Erkenntnislehre, steckt ein schöner, ja moralischer Gedanke: Wenn dieses in jenes verwandelt werden kann, dann ist doch keines dem anderen fremd! Dies meint nicht, dass alles mit allem zusammenhängt, das wäre banal. Nein, es sind die Gedichte selbst, die mit höchster Genauigkeit bestimmen, was miteinander vernetzt ist. In diesem Sinne sind Wagners Gedichte kleine Präzisionsmaschinen der Metamorphose.
Und manchmal geht die Verwandlung auch nicht auf. Im Gedicht „neben den barbaren“, in dem einem unheimliche Nachbarn auf die Pelle rücken, kommt die Einfühlung an ihre Grenzen und zurück bleiben die anderen, die Fremden, die Bedrohlichen. Aber insgesamt überwiegt eine weltzugewandte Lesart, und nicht von ungefähr sind sehr viele Gedichte anderen Dichtern, Dichterinnen gewidmet: es gilt in jeder Hinsicht das Prinzip Freundschaft.
Der neue Band umfasst fünf Teile, mit je 12 bis 15 Gedichten. Sie erzählen von vielen Reisen – innerhalb Europas, nach Nord- und Südamerika, nach Asien, sie rufen geschichtliche Ereignisse auf oder ganz private Kindheits- und Jugenderinnerungen: Nichts, was nicht der Poesie fähig wäre, solange man nur das Zauberwort findet, das die Verwandlungen startet.
Der letzte Zyklus beginnt mit einem kleinen Gedicht in der japanischen Gedichtform des Haiku. Sein Titel: Streichholz
streichholz
i
eines klappert noch
in der schachtel, gehütet
wie ein erster zahn
ii
dann angerissen
in dichtestem dunkel: ah!
Hier bin ich. war ich.
Die großen Fragen und die kleinen Dinge
Eine Geste des Abschieds, wer Subjekt ist, wer Objekt ist, ist gar nicht zu entscheiden, das „ich“ nicht mehr als ein abgebranntes Streichholz, das das Wort „ich“ in sich trägt. Am Ende greift auch der Dichter der nahen Dinge zur Welt und zum Himmel aus, aber ganz konkret. Das letzte Gedicht ist das titelgebende: „Steine & Erden“. Darin heißt es:
vereint auf dieser autobahn,
als sammle sich die ganze welt
aus beirut, bayreuth, verdun oder verden
bei steinen & erden, bei steinen & erden
Orte des Kriegs, der Kunst, Orte des Gleichklangs. „Steine & Erden“ steht dabei auf einem Schild, „das nach wie vor am himmel hängt, vielmehr dort thront, wer wir auch sind, was immer wir waren, was wir werden, (steine & erden, steine & erden)“.
Also doch die ganz großen Fragen, aber eben nicht die großen Rilke- oder Hölderlin-Antworten: Jan Wagner beweist einmal mehr in seinem neuen Gedichtband, dass man sie mit der poetischen Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge, für das, was uns umgibt, beantworten kann.
Buchkritik Jan Wagner – Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa
Begeistert schreibt Jan Wagner über seine Heldinnen und Helden der Lyrik – von Inger Christensen bis John Keats. Der Band versammelt Portraits, Essays und Skizzen von unterwegs, in denen der Büchner-Preisträger das Wesen der Dichtung erkundet. Elegant geschrieben, beglückend zu lesen.
Rezension von Ulrich Rüdenauer.
Hanser Verlag, 304 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-446-26943-9