Buchkritik

Isabel Allende – Der Wind kennt meinen Namen

Stand
Autor/in
Beate Tröger

Von Kindern, die Opfer politischer Willkür werden, erzählt Bestseller-Autorin Isabel Allende in ihrem neuen Roman. Sie verknüpft die Schicksale von drei Kindern, die im 20. Jahrhundert flüchten müssen, traumatisiert und heimatlos werden. Die Grundidee ist brisant - die Umsetzung überzeugt allerdings nur in Teilen.

Gesellschaften bestehen aus Individuen. Verwaltet werden sie aber von Regierungen, deren Gesetze im besten Fall dem Wohl des Einzelnen verpflichtet sind, im schlimmsten Fall Leben schädigen oder gar zerstören. In Isabel Allendes jüngstem Roman „Der Wind kennt meinen Namen“ sind es drei Leben, die der Willkür von Regierungen ausgeliefert waren oder sind: Samuel Adler, Leticia Cordero und Anita Durán. Jahrzehnte liegen zwischen ihren Kindheiten. Doch sie eint die Erfahrung aus politischen Gründen die Heimat verlassen zu müssen und von ihren Eltern getrennt zu werden.

Mit dem Kindertransport nach England

Samuel Adler ist jüdisch und fünf Jahre alt, als in Wien die Kristallnacht-Pogrome den ganzen Hass und die Zerstörungswut der Anhänger des Nationalsozialismus erkennbar machen. Obwohl seine Eltern Rudolf und Rahel geahnt haben, was kommen wird, begreifen sie nun erst das Ausmaß. Es ist zu spät für sie, aus Österreich zu fliehen. Doch es gelingt ihnen, Samuel mit einem Kindertransport nach England zu schicken.

Bis zu dem Moment, in dem der musikalisch hochbegabte Samuel in Richtung England verlassen soll, schildert Allende das Chaos und die Angst unter der jüdischen Bevölkerung plastisch und drastisch. Doch im Moment des Aufbruchs, als Samuel seine Geige zurücklassen soll, er sich weigert und spielt, entgleitet dem Roman der Ton:

"Sofort wurde es still rings um das Kind, das den Bahnhofsvorplatz mit den Klängen einer Serenade von Schubert füllte. Die Zeit hielt inne, und für wenige traumhafte Minuten fühlte sich die von Trennungsleid und Ungewissheit geschundene Menge getröstet. Samuel war klein für sein Alter und sah in dem übergroßen Mantel noch anrührender und zerbrechlicher aus. Mit geschlossenen Augen wiegte er sich zur Musik."

Wenn der Roman Samuel so auf seiner Geige spielen lässt, sägt das gehörig an den Nerven der Leserinnen und Leser. Doch Allendes Entschiedenheit zu erzählen, ihr Kalkül, ohne Scheu auf Affekte und Effekte zu setzen haben das Geschehen an dieser Stelle schon so weit vorangetrieben, dass man wissen will, wie es mit Samuel weiter geht.

Überlebende eines Massakers in El Salvador

Man möchte auch wissen, wie es um Leticia steht. An ihrer Figur entspinnt sich der zweite Strang der Romanhandlung. Leticia hat 1981 in El Salvador das Massaker von El Mozote überlebt, bei dem die Armee während des Bürgerkriegs rund 900 Menschen ermordete. Mit ihrem Vater hat sie das Dorf verlassen können, in dem sie aufgewachsen ist:

"Einige Kindheitserinnerungen waren Leticia geblieben: Der Geruch des Holzfeuers im Küchenofen, das üppige Grün, der Geschmack der Maiskolben, das Vogelkonzert, die Tortillas zum Frühstück, die Gebete ihrer Großmutter, das Weinen und Lachen ihrer Geschwister. Auch ihre Mutter hatte sie nicht vergessen, obwohl sie nur eine einzige Fotografie von ihr besaß."

Leticia landet in den Vereinigten Staaten. Mit ihrem Heimatland kommt ihr auch der Glaube abhanden.

"Leticia enttäuschte ihren Vater, weil sie die Schule abbrach und fortging, aber auch, weil sie der Religion den Rücken kehrte. »Auch wenn du Jesus verlässt, wird Er dich doch niemals verlassen«, sagte Edgar immer wieder und betete auf Knien für die Rettung seiner Tochter. Aber Religion ist eine Frage des Glaubens, und den besaß Leticia nicht, sie stellte zu viele Fragen."

Ihr Weg wird sich vier Jahrzehnte und drei Ehen später mit dem Weg von Samuel überschneiden.

An der US-Grenze von den Eltern getrennt

An einer weiteren Figur, der jungen Anwältin Selena Durán, entspinnt Allende den dritten und letzten Handlungsstrang.

Er beginnt 2019 und fokussiert einen weiteren Kontext politischer Willkür. Selena setzt sich in Arizona gegen Donald Trumps „zero tolerance“-Politik ein. Als Mitarbeiterin des Magnolia-Projekts versucht sie Kinder, die von ihren Eltern bei der Flucht in die USA getrennt worden sind, zu ihren Familien zurückzuführen. Zusammen mit dem eher technokratischen Anwalt Frank, der durch Selenas Engagement seine Borniertheit ablegen kann, setzt sie sich auch für die sehbehinderte Anita aus El Salvador ein, die mit ihrer Puppe Didi in einem Kinderheim lebt. Auch aus Anitas Perspektive wird im Roman erzählt:

"Ich hab auch gehört, dass ich zu einer Psychologin soll. Ich weiß, was das ist, ich war bei einer Psychologin, als wir den Unfall hatten. Das ist so was wie eine Lehrerin, nicht wie ein Arzt, sie untersucht mich nicht und gibt mir auch keine Spritzen. Ich gehe zusammen mit Miss Selena hin, und die Didi kann ich mitnehmen. Du kommst auch mit, Claudia. Das ist kein Grund zu weinen. Wir müssen ruhig sein. Wir sind nicht verloren. Der Wind kennt meinen Namen und deinen auch. Alle wissen, wo wir sind."

Ihre kindliche Erzählperspektive macht am deutlichsten klar, woran Allendes temporeicher Roman krankt. Immer wieder muss sich die Erzählstimme mit sentenziösen Bemerkungen und handlungs- oder zeitraffenden Kommentaren behelfen, um die Jahrzehnte überspannende Handlung zusammenzubringen, um die Not der kindheitstraumatisierten Figuren deutlicher herauszuarbeiten, um klar zu machen, wie drastisch die politische Willkür in Systemen Leben beeinträchtigen und lenken kann. Im Versuch, eine kindliche Stimme glaubhaft erzählen zu lassen, wirkt das besonders aufgesetzt.

Leider werden die Figuren nicht lebendig

Allende versucht, Parallelen zwischen drei Zeiten und Systemen zu ziehen, die, auch wenn die Motive der Willkür sich unterscheiden, schwere Traumata hinterlassen. Doch sie zwängt ihre Figuren zu sehr unter diese Konstruktion. Sie werden nicht so recht lebendig.

Am Ende wirkt der Roman zu kurz geraten, weil er sich für die Bögen, die er spannt, nicht ausreichend Zeit nimmt. Andererseits wirkt er zu lang, weil seine Konstruktion immer lauter klappert, je weiter die Geschichte vorangetrieben wird, anstatt sich aus den Beziehungen der Figuren zu entwickeln. Dabei sind die Anlagen aller Figuren so anregend, ist seine Grundidee so bewegend wie politisch brisant, dass „Der Wind kennt meinen Namen“ das Zeug dazu gehabt hätte, zu gelingen. Denn es sind ja tatsächlich meistens Kinder, die als schwächste Wesen unter politischer Willkür das schlimmste Leid erfahren.

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