Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als eine „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre autofiktionalen Erkundungsgänge produzieren dabei erstaunliche Einsichten in die Verfasstheit der französischen Gesellschaft. Die Schriftstellerin stellt mit oft kurzen, aber inhaltsschweren Texten nicht nur die Klassenfrage, sie befragt immer auch die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse. Der Literaturnobelpreis im vergangenen Jahr kam nur halb überraschend, weil ihr biographisches Schreiben längst ikonographisch geworden ist: Sie selbst aber hatte damit nicht gerechnet und war telefonisch nicht erreichbar.
Die Auszeichnung hat unter anderem zur Folge, dass auch ihre frühen Werke ins Deutsche übertragen werden. „Die leeren Schränke“ ist ihr erstes Buch, 1974 im Original erschienen und mit mehr als 200 Seiten für Ernaux-Verhältnisse ein geradezu opulenter Text. Der Grund dafür liegt darin, dass Ernaux in ihrem Debüt noch nicht ganz zu ihrer kargen, lakonischen Sprache gefunden hat, die später ihr Markenzeichen werden sollte. An Eindringlichkeit büßt das Buch dadurch aber an nichts ein.
Wir sind im Frankreich der 1960er-Jahre. Denise Lesur, die Ich-Erzählerin, hat eine heimliche Abtreibung hinter sich gebracht. Was das für eine junge Frau bedeutet, hat Ernaux Jahrzehnte später in „Das Ereignis“ aufgeschrieben. Hier liest man gewissermaßen die Rohfassung. Es geht um eine Kindheit in Freiheit, um Klassendünkel und um die Scham über die eigene Herkunft, die an das Mädchen von außen herangetragen wird. Ein Schlüsseltext für das Gesamtwerk.
Buchkritik Annie Ernaux – Die leeren Schränke
Der Debütroman der späteren Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux enthält bereits die großen Themen ihres späteren Werks, allen voran den harten Aufstieg aus einfachen Verhältnissen in die bürgerlich-intellektuelle Welt und das Zerrissensein zwischen den Klassen. Ein Schlüsselroman für das Verständnis von Annie Ernaux’ Werk, hart, aber absolut lesenswert.
Rezension von Susanne von Schenck (Übernahme vom SR).
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag, 218 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-518-22549-3
Literatur SWR Bestenliste Dezember
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.
Literatur Annie Ernaux: Der junge Mann – „Ein Roman über alles, was mir wichtig ist“
Annie Ernaux ist 54 Jahre alt, als sie eine Beziehung mit einem 30 Jahre jüngeren Studenten eingeht. Was sie an diesem jungen Mann reizt, ist nicht nur seine Leidenschaft als Liebhaber, sondern vor allem, dass er für sie die Tür zu einer Welt öffnet, die sie längst für verloren hielt. Über dieses Verhältnis schreibt die Literaturnobelpreisträgerin in ihrem Buch „Der junge Mann“.
Buchkritik Annie Ernaux – Das andere Mädchen
Als Annie Ernaux als kleines Mädchen ihre Mutter bei einem Gespräch belauscht, ändert sich ihr Leben mit einem Schlag: Sie erfährt, dass ihre Eltern vor ihr bereits eine Tochter hatten, die mit sechs Jahren an Diphtherie gestorben ist. Mit ihren Eltern wird sie nie über diese Schwester sprechen, erst Jahrzehnte später versucht Annie Ernaux in einem Brief sich dieser Unbekannten zu nähern: „Das andere Mädchen“ heißt der erschütternde und suchende Text.