Anke Feuchtenberges neue Graphic Novel porträtiert ostdeutsches Dorfleben im Sozialismus. Als Sammlung surrealer Anekdoten. Feuchtenbergers Bildergeschichten sprengen die Logik klassischer Comics. Traummotive und Reales mischt sie unbekümmert in eins.
Dass ein Verlag eine Trigger-Warnung zur Graphic Novel einer deutschen Zeichnerin herausgibt, kommt nicht alle Tage vor. Die Warnung ist angebracht. Auch wenn Anke Feuchtenbergers neues Werk „Genossin Kuckuck“ kein Horror-Comic ist. Es wird tatsächlich gefressen, sich vermehrt, zersetzt und geschlagen.
Was man nicht erwarten sollte: eine realistische Handlung. Logik. Entwicklung der Figuren. Und doch – wer sich auf Feuchtenbergers Bilderwelten einlässt, wird belohnt mit einem Kosmos voller Schönheit, so schrecklich diese manchmal auch sein mag. Kaum jemand beherrscht das fotorealistische Zeichnen mit Bleistift so souverän wie sie.
Kindheit und Jugend in der DDR-Provinz
In „Genossin Kuckuck“ nimmt die Zeichnerin uns mit in die DDR-Provinz, ins fiktive Dorf Pritschitanow, wo die Landschaft einprägsamer ist als die Gesichter der Figuren. Dort wachsen in den 60ern die Freundinnen Effi und Kerstin auf, verbunden durch Zuneigung wie durch Neid.
In kurzen Episoden hüpft die Zeichnerin kreuz und quer durch Kindheit und Jugend der Mädchen. Sporadisch auch in die Zeit des gefühlten Raubtierkapitalismus nach dem Ende der DDR. Feuchtenberger zeichnet die Anekdoten wie gewohnt in vielen Graustufen des Bleistifts. Jede lässt sie von einer trockenen, lakonischen Erzählstimme kommentieren – noch eines ihrer typischen Stilmittel. Bisweilen setzt sie kurze Textpassagen zwischen die Bilder.
In dieser Comic-Realität hat das Surreale seinen festen Platz. Ein ausgestopfter Wildschweinkopf kann sprechen, riesige Pilze und Schnecken entwickeln Persönlichkeit, aus dem Hals einer alten Frau ragt kein Kopf, sondern schleimige Lamellen, ohne dass das alles jemand seltsam fände.
Vermischung von Traum und Wirklichkeit
Traum und Wirklichkeit scheinen einander zu durchdringen. Nur was ist was? Das verwischte Grau des Bleistifts taucht alles in eine bedrückende Atmosphäre. Sogar harmlose Orte wie ein See oder ein Trafohäuschen bekommen durch raffinierte Hell-Dunkel-Effekte oder Weitwinkel-Perspektive etwas Bedrohliches.
Zwischendurch kippt Feuchtenberger den Erzählton ins Absurd-Komische. Dann streiten Kerstin und ihre Großmutter sich auch mal als knallrot getuschte Fabel-Wesen mit Wolfsköpfen um die Frage: Eis oder Abendessen?
Ein Handlungsbogen lässt sich auf den 480 Seiten von "Genossin Kuckuck" nicht erkennen. Aber wer dranbleibt, vor dessen Augen erweckt Feuchtenberger ein komplexes Beziehungsgespinst zum Leben.
Nebenfiguren tauchen immer wieder auf oder bekommen eigene Episoden. Zum Beispiel Kerstins Bruder Jochen, in den sich Effi verliebt. Oder Effis Mutter Rosi, die Dorfschönheit und ihr Mann Helmut, ein Jäger und Kontaktmann zu russischen Soldaten. Ihr Geliebter Henk ist zunächst Leiter eines Erziehungsheims, nach dem Ende des Sozialismus treibt er Geld ein.
Ob für sich oder für den Staat, bleibt unklar. Wie überhaupt in Wort und Bild nur angedeutet wird, in welchem Land und welcher Zeit die jeweilige Episode stattfindet. Doch gerade das macht den Reiz der Lektüre aus. Ähnlich wie in guten Fernsehserien. Und wie Serien über Staffeln hinweg manchmal Bilder zitieren, durchzieht die Zeichnerin ihre Graphic Novel mit bestimmten Bildmotiven.
Besonders alle möglichen Tiere. „Schneckenprinzessin“ nennt Effi Kerstin liebevoll in Episode Eins. Später sitzen Frauen mit Fühlern am Kopf bei der Hausarbeit oder gleiten durchs Dorf. Sie erinnern an die Nacktschnecken, die in so gut wie jeder Episode durchs Bild kriechen. Deren Eier ähneln auf erstaunliche Weise den Perlen in Rosis Kette oder kleinen Blüten in einer Vase. Nur ein Beispiel von vielen. In „Genossin Kuckuck“ ist alles mit allem verbunden.
Magischer Realismus
Vor allem – und das macht Anke Feuchtenbergers Könnerschaft aus – das Private mit dem Politischen. Denn sie flicht in Dialogen und Bildern immer wieder ein, wie sich Gewalt und politische Herrschaft ins Dorfleben einschreiben. Beiläufig wird sexualisierte Gewalt durch russische Soldaten angedeutet.
Da wird klar, warum immer wieder weibliche Figuren in die Bilder gezeichnet werden, die mit gerafften Röcken und angezogenen Beinen auf dem Rücken liegen. Durch solche Querverweise weitet sich das Porträt eines Dorfs zu einer Geschichte Nachkriegsdeutschlands auf kleinstem Raum. Und das alles mit einem simplen Bleistift und den Mitteln des magischen Realismus.