Ein Dorf im Osten stirbt – und seine Toten treffen sich im Jenseits. Sie beobachten die verbliebenen Bewohner, ihre Sehnsüchte und Träume. Ein Panoptikum aus Einsamen und Verbitterten, Säufern und Kranken. Gegenwart und Vergangenheit des Dorfes, Wut, Apathie und Hoffnung, gezeichnet an einer Fülle von Figuren. Ein leider nicht ganz überzeugender Dorfroman über den Osten der Nachwendezeit.
In der Silvesternacht erschlägt Hilde ihren Mann mit einer Axt
Es beginnt mit Wucht: In der Silvesternacht erschlägt Hilde ihren Mann mit einer Axt. Nach 40 Jahren liebloser Ehe spaltet sie seinen tumorverseuchten Schädel, dann geht sie zur Party in der Nachbarschaft, tanzt die Nacht durch und verschwindet für immer, aus ihrem Heimatdorf im Osten Deutschlands.
Seit der Wende herrscht hier quasi Friedhofsatmosphäre. Die Dorfgemeinschaft ist zerbrochen, die verbliebenen Bewohner versinken in Tristesse und Perspektivlosigkeit. In einzelnen, lose miteinander verknüpften Kapiteln führt uns Klüssendorf in die Alltags-und Gedankenwelt der Einsamen und Verbitterten, der Trinker und Zermürbten.
Klüssendorf erzählt beklemmend von der inneren und äußeren Verwahrlosung der Dorfbewohner
Zeichnet an „Schlucki“, Eisenalex, der „dicken Hubert“ und anderen Dorfbewohnern - wie schon in früheren Romanen - beklemmend innere und äußere Verwahrlosung nach. Erzählt von Ignoranz, Kälte und Gewalt in den engsten Beziehungen. Und von der Wut, die sich in vielen seit dem Mauerfall aufgestaut hat. Hildes tyrannischer Mann Walter lässt seine Wut auch an seiner Frau aus.
Seine Feindseligkeit hatte sich längst auf den Tisch, das Salzfässchen, die Uhr an der Wand übertragen, das Ticken klang bedrohlich, tick tack, er sah über sie hinweg, als wäre sie Luft. (…) Walter verbarg seine Wut nicht mehr hinter heimlichen Attacken, etwa dass er die Spülung der Toilette nicht mehr betätigte. (…) Er machte sie klein, entwertete und erniedrigte sie. Hast du dein Haar gekämmt, sagte er am Frühstückstisch, dich gewaschen? Wenn sie im Weg stand, stupste er sie weg, mit dem Ellenbogen, wie zufällig.
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Warum Hilde den Todkranken erschlägt, ob aus Erbarmen oder aus Rache, bleibt ein Rätsel
Durch den Hirntumor verändert sich Walters Wesen – zum Guten und Freundlichen. Ob Hilde den Todkranken aus Erbarmen oder aus Rache erschlagen hat bleibt ein Rätsel. Auch für Walter selbst, wie wir erfahren. Denn Angelika Klüssendorf verschränkt das Figurenmosaik auf Erden abwechselnd mit Kapiteln aus dem Jenseits. Dort trifft Walter auf andere Verstorbene des Dorfes, unter anderem auf seine Schwiegermutter:
Ich bin froh, dass du da bist, sagt sie. Der Letzte muss berichten. Sie deutet auf den Friedhof./ Wer sagt das? / Ist einfach so. / Es gibt also Regeln im Jenseits? / Du bist jetzt der Berichterstatter. / Was muss ich tun? / Erzählen, was dir wichtig ist. / Dann bin ich eine Art Chronist? Nenn es, wie du willst. Und vergiss nicht, du hast alle Zeit der Welt.
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Die Verstorbenen berichten aus dem Jenseits
Durch Walters Berichte aus dem Jenseits, im direkteren Präsens geschrieben, entsteht ein komplexes Netz aus Vergangenheit und Gegenwart, und ein überkonstruiertes Figurengeflecht zwischen „oben“ und „unten“, in der Gruppe der Lebenden und der Gemeinschaft der Toten.
Die Verstorbenen erkunden miteinander ihre Lebens-und Sterbegeschichten; begleiten ihre lebenden Angehörigen wie stille Schatten, lesen ihre Träume. Und beobachten, so wie Walter, wie sich die Apathie in der ostdeutschen Provinz immer weiter ausbreitet:
Das möchte ich den Menschen im Dorf zurufen: Sterbt nicht aus Überdruss. Es ist wie ein doppelter Tod. Erst das wie tot geführte Leben, dann der Tod selbst, der Euch nichts von diesem Schrecken nimmt.
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Das Personal aus dem Jenseits verdichtet sich zu einem eher anstrengenden Panoptikum
Die Totenperspektive hat – wenn literarisch durchaus nicht neu – zunächst ihren Reiz. Doch im Laufe des Romans verdichtet sich das Personal zu einem eher anstrengenden Panoptikum: Im Jenseits tummelt sich ein Lithopädion, eine sogenannte Steinfrucht, die sich nach der Zeugung nicht entwickelt hat und im Becken der Schwiegermutter festsaß.
Der schöne Karl, der beim Orgasmus starb, trägt eine Dauererektion vor sich her, und Dr. Freud tritt als weiser Experte für Tod und Sterben auf. Auf Erden versammeln sich die seelischen und körperlichen Störungen wie aus einem medizinischen Lexikon: Lipome - Fettgeschwulste – auf der Stirn, die teuflischen Hörnern gleichen. Panzerherzen, Bipolarität und Adipositas.
Es gibt einen Biobauern, der zum Esoteriker wird, ein junges Paar aus dem Westen, das sich endlich zugehörig fühlen will, eine geschlechtsumgewandelte Urugayerin und ein vernachlässigtes Rollschuhmädchen, das nachts in einer Hundehütte schläft.
Kurze, schlaglichtartige Episoden erzählen von zu vielen Figuren, die wiederum knappe Außenperspektiven auf die anderen liefern. Das zerfasert zusehends. Nur die Hoffnung auf Veränderung, die Sehnsucht nach Ausbruch hält das irdische Personal zusammen:
Wir könnten was erfinden, überlegt Eisenalex, einen neuen Tag zum Beispiel. Wie wäre es mit dem vierunddreißigsten September? / Warum vierunddreißig, fragt Leo, und sein Kiefer knackt beim Gähnen. / Meine Glückszahl. / Was machen wir an dem Tag? / Alles anders. / Und was? / Wir probieren Sachen aus, wie … / Wie was? / Wir trampen an die Ostsee, heuern auf einem Fischkutter an, und dann … / Fischkutter, sagt Leo, und steht auf, um das nächste Bier zu holen. Warum wird man überhaupt geboren, fragt er. Für welche Idee würdest Du sterben? Eisenalex zuckt die Achseln.
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Aus dem Jenseits beobachtet Walter die Entwicklungen im Dorf: Steven Spielberg kündigt sich an, er will einen Film über einen ehemaligen Widerständler des Ortes drehen, aber die kurze Hoffnung, dass sich jetzt alles ändert, versandet.
Eine syrische Familie zieht ein, das Rollschuhmädchen geht auf Weltreise, und von der verschwundenen Hilde, die immer Schriftstellerin werden wollte, erscheinen Gedichte auf Tschuktschisch. Walter liest sie im Jenseits:
Ich habe eine Zeile aus dem Gedicht von Hilde übersetzt: „Nur Regen, der auf nichts mehr trifft.“
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Noch ein letzter Blick aufs Dorf. Das greise Röschen geht ins Wasser und wird von ihrem verstorbenen Sohn im Totenreich erwartet. Und auch Walter nimmt jemanden in Empfang:
Ich bin bei Schlucki, Obwohl er in seinem Erbrochenen liegt, will er nicht gehen. Ich halte seinen alten Säuferschädel so lange, bis er aufgibt. / „Nur Regen, der auf nichts mehr trifft“.
(Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September)
Die schmerzhafte Wucht, die Angelika Klüssendorf in früheren Romanen entwickelt hat, die beklemmende Atmosphäre, die sie in nüchterner Sprache immer wieder gezeichnet hat, all das scheint hier zwar auf, versackt aber unter der Fülle an Ideen, Klischees und Volten. Mag sein, das alles ist ein Spiel mit dem mittlerweile etwas strapazierten Genre des ostdeutschen Dorfromans. Überzeugend ist es leider nicht.