Nach dem Freispruch beim Militärprozess in Spangdahlem blieben einige Fragen offen. Manche davon sind jetzt beantwortet. Für die Familie des Opfers ist vieles aber noch nicht klar.
Als Irina und Michael Ovsjannikov am Freitag den Militärgerichtssaal auf der Air Base Spangdahlem betreten, sind sie sich sicher: Jemand wird für den Tod ihres Sohnes Michael am 19. August 2023 auf der Säubrennerkirmes verurteilt werden. "Die Air Base hatte uns angerufen, dass es jetzt ein Urteil gibt, und wir waren die ganze Fahrt über sehr aufgeregt", erzählt Michael Ovsjannikov. "Das war der Moment, in dem wir alle sicher waren, dass er schuldig gesprochen wird."
Aber es kommt anders. Nach elf Verhandlungstagen und vielen Stunden Beratung erklärt die achtköpfige Jury den angeklagten US-Soldaten für "not guilty" - nicht schuldig. "Es war das gleiche Gefühl wie am 19. August, als die Todesnachricht kam: Du hörst etwas Schlimmes, kannst aber nicht glauben, dass es wahr ist", erinnert sich Vater Michael.
Im Prozess war die Beweislage gegen den Flugzeugmechaniker dünn. Kein Zeuge hatte ihn eindeutig belastet. Dabei waren sich Staatsanwaltschaft und die Familie des Opfers sicher, dass der Richtige für die Messerstecherei auf der Säubrennerkirmes auf der Anklagebank saß. Denn genau dieser Soldat hatte kurz nach der Tat ein Geständnis abgelegt.
Angeklagter hatte Tötung gestanden
Die Familie hatte das Geständnis bei der öffentlichen Haftprüfung auf der Air Base Spangdahlem gehört. Für sie ist das der eindeutige Beweis, denn der Soldat hatte Täterwissen, sagt Daniel Ovsjannikov, der Bruder des Opfers: "Wir haben dort gehört, dass der Soldat das Messer weggeworfen hat, was sonst kein anderer wusste. Wohin er genau gestochen hat. Und die Marke des Messers konnte er nennen."
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Trier dieses Geständnis bestätigt. Mehrere Stunden sei der junge US-Amerikaner von der Polizei verhört worden. Schließlich habe er dann zugegeben, den 28-Jährigen erstochen zu haben.
Aus Notwehr, wie er damals noch behauptete: Er habe einem Freund helfen wollen. Dieser andere amerikanische Soldat sei mit dem Opfer, dem Sohn der Ovsjannikovs, in Streit geraten. Es habe ein Gerangel gegeben, einen Kampf, bei dem sein Freund verletzt wurde. Dann habe er zugestochen, so die Aussage laut Staatsanwaltschaft.
Die Familie hatte über ihren Anwalt auch Einsicht in die Akten mit diesen Informationen, sagt Michael Ovsjannikov: "Warum wurde das Geständnis nicht zugelassen? Das ist die große Frage. Das hat natürlich eine rechtliche Seite. Aber menschlich gesehen hatten wir die Hoffnung, dass die ganzen Ermittlungen, auch durch die Amerikaner, gereicht hätten, ihn zu bestrafen." Der schwerwiegendste Beweis sei das Geständnis.
Deshalb galt das Geständnis vor Gericht nicht
Dieser Beweis spielte im Prozess allerdings keine Rolle. In der Verhandlung sagte der US-Amerikaner kein Wort. Dass er zuvor gestanden hatte, erfuhren die Geschworenen nicht. Denn die Militärrichterin hatte das Geständnis "nach sorgfältiger Prüfung" als Beweis nicht zugelassen, wie die Air Base Spangdahlem auf SWR-Anfrage bestätigt.
Der Grund: "Anhand einer umfassenden, gesetzlich vorgeschriebenen Analyse der Umstände kam die Richterin zu dem Schluss, dass die Aussage des Angeklagten bei der Polizei nicht freiwillig war." Auf Nachfrage des SWR konkretisiert ein Sprecher der Air Base: Es habe es vor allem eine Rolle gespielt, wie lange der Soldat im Arrest saß, nachdem er am Morgen nach der Tat festgenommen wurde. Als der Soldat durch die Wittlicher Polizei befragt wurde, soll er zudem den Eindruck gehabt haben, dass ihm mit einem Arrest über Nacht gedroht wird, wenn er nicht redet.
Klar ist: Bei seinem Geständnis bei der Polizei hatte der Soldat auf einen Verteidiger verzichtet, wie es bei der Staatsanwaltschaft Trier heißt. Sowohl deutsche als auch US-amerikanische Ermittler hätten den jungen Mann zuvor über seine Rechte belehrt.
Für den Prozess hatte der US-Soldat sich dann einen Anwalt besorgt. Dieser Verteidiger beschuldigte dessen Freund, den zweiten US-Soldaten, die Tat begangen zu haben. Auf der Tatwaffe war nur DNA des Opfers gefunden worden, dessen Blut befand sich an beiden Soldaten, die Zeugen waren zur Tatzeit größtenteils betrunken gewesen und konnten sich nicht richtig erinnern.
"Das war so, wie wir das in amerikanischen Filmen sehen. Diese Kunst der Anwälte. Die können alles umdrehen. Wir haben uns wie im falschen Film gefühlt", sagt Michael Ovsjannikov. Eine Show sei ihnen vorgespielt worden, findet seine Frau Irina. Der Anwalt des Angeklagten habe gesagt, es gebe keine Beweise, nur Vermutungen. Aber Familie Ovsjannikov ist der Meinung, dass auch der Verteidiger nur Vermutungen hatte. Keine Beweise.
Könnte der zweite Soldat angeklagt werden?
Eine weitere Frage, die offen bleibt: Könnte der zweite Soldat, nun, da er im Prozess als mutmaßlicher Täter präsentiert wurde, angeklagt werden? Die Air Base hatte mitgeteilt, dass er schon disziplinarrechtlich bestraft wurde. Unklar bleibt, ob seine mögliche Beteiligung an der Tat damit auch strafrechtlich abgegolten ist oder nicht, sagt der Trierer Strafrechtler Ron-Jo Koenen.
Familie Ovsjannikov hat ohnehin kein Interesse daran, dass dieser zweite Soldat vor ein Gericht gestellt wird. "Wir sind Menschen. Das geht überhaupt nicht. Wenn jemand unschuldig ist, wie sollte man den bestrafen? Die Leute, die herausgefunden haben, wer schuldig ist, das war die Staatsanwaltschaft", sagt Michael Ovsjannikov. Ein Team habe schließlich monatelang ermittelt: "Deshalb sind wir sicher, dass der Richtige vor Gericht stand."
Familie kann keinen Frieden finden
Die Familie hatte gehofft, dass jemand für den Tod ihres Sohnes zur Rechenschaft gezogen wird. Damit sie damit abschließen können. Das ging bisher nicht, sagt Michael: "Solange wir diesen Weg gehen, wissen wir nicht, was hinter dem Berg kommt. Was dann ist, kann man erst sagen, wenn man da ist. Aber wir sind ja noch gar nicht dahin gekommen."
Ganz abschließen werde man nie können, ihr Sohn wird nicht zurückkommen. Aber die Familie hätte irgendwann einen Weg finden können, mit ihrem Verlust umzugehen, ihn in irgendeiner Weise zu akzeptieren, sagt er: "Im Moment sind wir noch im Schock, wir haben ein Trauma. Ich kann die Gefühle überhaupt nicht beschreiben."
Seit über zwei Wochen, seit der Prozess gestartet war, habe er nicht richtig arbeiten gehen können. Führe ständig Telefonate. "Wir hatten die Hoffnung, unseren Frieden zu machen. Aber die wurde komplett zerrissen."
NATO-Truppenstatut regelt Zuständigkeit
Was die Familie auch nicht verstehen kann: Warum der Fall überhaupt vor einem US-amerikanischen Militärgericht verhandelt wurde und nicht vor einem deutschen: "Die Tat wurde auf deutschem Boden an einem Deutschen begangen." Schließlich war der jetzt freigesprochene Soldat in Zivil auf der Kirmes unterwegs, ergänzt Irina.
Aber das NATO-Truppenstatut und dessen Zusatzabkommen regeln unter anderem, wie mit ausländischen Streitkräften, die in Deutschland stationiert sind, umgegangen wird. Ist zum Beispiel ein US-Soldat verdächtig, ein Verbrechen begangen zu haben, kann die deutsche Justiz das Verfahren demnach an die US-Strafverfolgung abgeben.
Das ist auch im Fall der Messerstecherei auf der Wittlicher Säubrennerkirmes geschehen. Denn so ist es seit Jahren üblich, wie das rheinland-pfälzische Justizministerium dem SWR bestätigt.
Hätte Deutschland das Verfahren an sich reißen dürfen?
Theoretisch hätte die Trierer Staatsanwaltschaft den Fall aber nicht abtreten müssen. Laut Justizministerium hätten die deutschen Ermittler das Verfahren wieder annehmen können, sogar bis zu 21 Tage, nachdem sie es an die US-Behörden abgegeben hatten.
In der Praxis passiert das aber nur in Einzelfällen und muss begründet werden. Im Abkommen heißt es dazu konkret, es müssten "wesentliche Belange der deutschen Rechtspflege die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit erfordern".
Der Trierer Strafrechtler Ron-Jo Koenen übersetzt: "Wenn es zum Beispiel um einen Terroranschlag auf den deutschen Staat geht, um Interessen der Bundesrepublik, dann wäre das denkbar." Aber auch, wenn jemand getötet wird, der nicht selbst Teil der US-amerikanischen Streitkräfte ist. Wie im Fall des Messerangriffs von Wittlich.
"Bei einer Tat, die so schwer wiegt und in der Öffentlichkeit eine solche Brisanz hat, hätte grundsätzlich die Möglichkeit bestanden, das Verfahren nicht abzugeben." Warum die deutsche Strafverfolgung ihr Ermessen hier nicht wahrgenommen hat, das kann Koenen nicht bewerten.
Familie durfte nicht als Nebenkläger auftreten
Die Familie des Opfers kann sich das nicht erklären, schließlich ging es um ein Tötungsdelikt: "Wir sind keine Juristen. Aber für uns als normale Bürger ist es schwer zu verstehen, warum dieses Verfahren abgegeben wurde. Wir leben in einem Rechtsstaat und wir sind sehr enttäuscht, dass es so gelaufen ist."
Auch in einem deutschen Gerichtsverfahren hätte der Angeklagte sein Geständnis zurückziehen können. Das Gericht hätte aber zumindest darüber Bescheid gewusst - im Gegensatz zu den Geschworenen jetzt in dem amerikanischen Militärprozess.
Ebenfalls im Gegensatz zu einem deutschen Prozess, war es der Familie nicht möglich, als Nebenkläger aufzutreten. Sie hatte nur das Recht, während des Prozesses anwesend zu sein. "Wir konnten nichts machen, wir waren nur Zuschauer. Wir hatten Vertrauen, dass die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit macht. Aber anscheinend hat es nicht gereicht."
Familie prüft weiteres Vorgehen
Die Familie will nicht aufgeben, sagt Mutter Irina: "Wir werden alles versuchen, bis Gerechtigkeit da ist." Denn sie sind der Ansicht, dass das Thema die gesamte deutsche Bevölkerung betrifft: Jeder könne Opfer eines Verbrechens durch einen US-amerikanischen Soldaten sein, der dann - wie in ihrem Fall - dafür nicht zur Rechenschaft gezogen würde.
Gemeinsam mit ihren Anwälten prüfen die Ovsjannikovs mehrere Möglichkeiten, wie sie weiter vorgehen wollen. Unter anderem wollen sie sich an den Deutschen Bundestag wenden. Ob es überhaupt noch einen weiteren Rechtsweg gibt, ist allerdings fraglich. Mit dem Freispruch ist das Verfahren abgeschlossen.
Dass die Staatsanwaltschaft in Berufung geht, ist im US-Justizsystem nicht vorgesehen. Und auch der Trierer Staatsanwaltschaft seien die Hände gebunden, wie der Leitende Oberstaatsanwalt Peter Fritzen erklärt: "Eine erneute Übernahme des Verfahrens durch die deutsche Staatsanwaltschaft nach dem ergangenen Urteil des US-Militärgerichts ist nach dem NATO-Truppenstatut nicht möglich."
Denn das würde dem verfassungsrechtlichen Grundsatz "nicht zweimal in derselben Sache" widersprechen. Weder in Deutschland noch in den USA darf ein Mensch zweimal wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden.
Gedenken an den verstorbenen Sohn
Das Rechtliche ist die eine Sache, es gibt aber auch eine menschliche Seite: "Wir spüren, dass die ganze Gesellschaft, Freunde, Bekannte, auch Unbekannte auf unserer Seite stehen." Eine Demonstration, die für Freitag vor der Air Base Spangdahlem geplant ist, sieht die Familie dennoch mit gemischten Gefühlen. Zwar freue man sich, dass die Menschen für den getöteten Sohn auf die Straße gehen wollen.
Dass die Demo ursprünglich unter anderem unter dem Motto "'#fuckedsystem" laufen sollte, stört Michael Ovsjannikov aber: "Das ist viel zu frech und unsauber. Das ist nicht unser Charakter, nicht unser Stil, jemanden zu beleidigen. Wir sind nicht aggressiv, wir wollen nur gemeinsam etwas ändern."
Am wichtigsten ist der Familie, das Andenken an ihren Sohn hochzuhalten: "Auf Michaels Beerdigung waren etwa 2.000 Menschen. Das zeigt, was für ein besonderer Mensch er war."