Jürgen Wittkopp wurde als Kind von seinen Eltern zur Kur nach Bad Kreuznach geschickt. Das war im Herbst 1963. Die sechs Wochen waren für ihn traumatisch.
Jürgen Wittkopp kommt aus Wuppertal. Er ist ein großgewachsener Mann, mit Bart, schlank, freundlich. In einer Kiste hat er noch ein altes Foto gefunden. Es zeigt ihn mit einer Gruppe fröhlich wirkender Kinder auf dem Gelände des Viktoriastifts in Bad Kreuznach.
Gewalt zählt zur Tagesordnung
Zu sehen sind auch eine Schwester und ein Betreuer. Aber was heißt hier schon Betreuer: Es sind Peiniger. Schläge sind an der Tagesordnung, es gibt Backpfeifen, es wird an den Haaren und am Ohr gezogen.
Kinder kommen selbst nachts nicht zur Ruhe
Nachts sei im Schlafsaal kontrolliert worden, ob alle Kinder schlafen, erzählt Jürgen Wittkopp. Mit einer grellen Taschenlampe wird allen ins Gesicht geleuchtet. Wer nicht schläft oder durch das grelle Licht erschrocken aufwacht, muss sich neben sein Bett stellen und darf erst dann wieder ins Bett gehen, wenn es den Betreuern passt.
Auch beim Essen wurde hart durchgegriffen
Im Speisesaal das gleiche Regiment: Einmal habe er sich nicht an seinen Platz gesetzt, erzählt er. Da sei er an den Ohren gepackt und zu seinem ihm zugewiesenen Platz gezerrt worden. "Die Schwestern waren schlimm..." Und da stockt Wittkopps Atem kurz. "Wie Tiere, unmenschlich."
Abgemagert ging's zurück nach Wuppertal
Nach sechs Wochen geht es wieder zurück nach Wuppertal, geprägt von schlimmen Erfahrungen. Jürgen Wittkopp wiegt inzwischen zehn Kilo weniger. "Nach Hause zu kommen war schlimm", sagt er und dabei zittert seine Stimme. Seine Mutter habe ihn am Bahnhof nicht erkannt. Zu seiner Oma habe sie gesagt: "Das ist doch nicht der Jürgen!"
Jahrzehntelang hat Jürgen Wittkopp das Erlebte verdrängt. Erst als er mit sechzig in Rente geht und innerlich mehr zur Ruhe kommt, kommen auch die Erinnerungen.
Nervenzusammenbruch im Krankenhaus
Seine Frau Angelika erzählt, dass sie erst spät gemerkt habe, wie belastet ihr Mann bis heute sei. So richtig präsent werden die Ereignisse, als er im Krankenhaus wegen eines Magenleidens behandelt wird und der Arzt nach der Kindheit fragt. Da habe er einen Nervenzusammenbruch erlitten, erzählt Jürgen Wittkopp.
Am Viktoriastift hat die Aufarbeitung begonnen
Über das, was im Viktoriastift in Bad Kreuznach passiert ist, gibt es inzwischen eine erste wissenschaftliche Studie. Der heutige Träger, das Landeskrankenhaus, hatte sie in Auftrag gegeben. Ausschlaggebend war die SWR-Dokumentation "Das Leid der Verschickungskinder", die 2021 erschienen ist.
Mit Hilfe der Studie soll aufgearbeitet werden, was während der Kinderverschickungen passiert ist. Insgesamt sollen etwa 18.000 Kinder in Bad Kreuznach in Kur gewesen sein.
Bundeskongress in Bad Kreuznach
An diesem Wochenende findet im Haus des Gastes in Bad Kreuznach der Bundeskongress "Aufarbeitung Kinderverschickungen 2024" statt. Dort wird unter anderem darüber gesprochen, was sich Betroffene wünschen und welche politischen Forderungen man auf den Weg bringen möchte.
Viele hoffen auf eine Entschuldigung
Jürgen Wittkopp wünscht sich, dass sich die heutigen Verantwortlichen für das entschuldigen, was damals passiert ist. "Das würde mir persönlich doch noch mal gut tun".
Demütigung und Gewalt Rose erzählt vom Leid als Verschickungskind
Rose musste als Kind sechs Wochen allein in eine Kur. Dort wurde sie gedemütigt, gequält und sexuell erniedrigt. So wie ihr ging es tausenden sogenannter "Verschickungskindern". Mehr als 60 Jahre schwieg Rose. Jetzt erzählt sie über das Leid, das sie im Kindererholungsheim in Bad Dürrheim erlebte.