Sie muss vor den Nazis flüchten und im Ghetto leben. Ihre Eltern werden vor ihren Augen erschossen. Seit 20 Jahren erzählt Henriette Kretz als Zeitzeugin Schulklassen, was sie erleben musste - in dieser Woche in Ockenheim (Kreis Mainz-Bingen).
Henriette Kretz ist eine zierliche Frau und hat eine leise, brüchige Stimme. Doch wenn sie von ihrem Schicksal erzählt, dann entfaltet diese kleine Frau eine solche Kraft, dass man im Publikum eine Stecknadel fallen hören könnte.
Heute ist Henriette Kretz 89 Jahre alt. Dass sie hier in Ockenheim sitzt, und Schülerinnen und Schülern berichtet, was sie erlebt hat, verdankt sie vor allem ihrer eigenen Stärke. "Ich wollte leben, einfach nur leben", sagt sie auf die Frage, wie sie es geschafft hat, nach all dem Schrecken, den sie persönlich in der Nazi-Zeit erleben musste, weiterzumachen.
Ingelheimer Schüler erfahren von Ausgrenzung und Vertreibung
Henriette Kretz wurde am 26. Oktober 1934 geboren. Die Familie lebte in der Nähe von Opatów im südöstlichen Polen, wo ihr Vater als Arzt arbeitete, ihre Mutter war Anwältin. "Ich hatte alles, was man als Kind braucht", erzählt Kretz und lächelt immer wieder verschmitzt, während ihr die Schülerinnen und Schüler einer 12. Klasse des Sebastian-Münster-Gymansiums Ingelheim gebannt zuhören. "Ich hatte liebende Eltern, ich hatte einen Hund, ich hatte viele Freunde und wunderschöne Natur". Ihr Leben sei unbeschwert gewesen, bis ihre Familie 1939 nach dem Überfall Deutschlands auf Polen flüchten musste.
Leben im Ghetto: Todesangst und Hunger
Sie habe erst dann realisiert, dass sie Jüdin sei, erzählt Kretz den Jugendlichen. Sie durfte sie nicht mehr in die Schule gehen, ihr Vater, der Arzt, verlor seine Stelle, Juden wurden verpflichtet, eine Armbinde mit dem Davidstern zu tragen. Sie selbst habe als Kind die Rassenlehre der Nazis nicht verstanden und sich gefragt: "Warum bin ich nicht genug?"
Auf der Flucht vor den Deutschen kam die Familie schließlich nach Sambor in der heutigen Ukraine. Und musste dort ab 1941 im dort errichteten Ghetto leben. Dort habe sie Hunger, völlige Verzweiflung und Todesangst erlebt, erzählt Henriette Kretz und erinnert sich an so viele Details, sodass spürbar wird, wie tief das Erlebte ihre Seele erschüttert hat. Schließlich wurden Henriette Kretz' Eltern vor ihren Augen von deutschen Soldaten erschossen. Da war sie 9 Jahre alt.
Ingelheimer Schülerinnen und Schüler tief berührt
Als sie vom Verlust ihrer Eltern erzählt, wirkt Henriette Kretz noch immer zutiefst traurig. Mehrere Schülerinnen und Schüler im Publikum sind so berührt, dass ihnen Tränen übers Gesicht laufen.
"Man weiß ja schon so einiges über Geschichte, aber es ist etwas ganz anderes, von einer Zeitzeugin zu hören, wie es damals war", findet die Zwölftklässlerin Lisa Klintworth. Sie ist beeindruckt von Henriette Kretz, nennt sie eine "sehr starke Frau." Ähnlich geht es ihrem Mitschüler Sebastian Tittelbach: "Es ist mutig und sicher sehr schwer, all das das immer wieder zu erzählen." Der Vortrag habe ihn sehr berührt und er zeige ihm, das so etwas wie damals nie wieder geschehen dürfe.
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Zeitzeugin mahnt junge Menschen
Henriette Kretz konnte sich nach der Ermordung ihrer Eltern in ein Kloster retten und überlebte die Zeit des NS-Terrors in einem Waisenhaus. Seit inzwischen vielen Jahrzehnten lebt sie in Antwerpen in Belgien. Sie hat zwei Söhne, drei Enkel und einen Urenkel.
Die Erinnerungsarbeit bedeute ihr viel, sagt sie. Das Trauma des Holocausts werde sie für immer begleiten. Doch sie habe immer nach vorne schauen wollen und tue das bis heute. Im Übrigen sei das, was sie erzählt habe, keine besondere Geschichte, sondern eine Geschichte, die es millionenfach in Europa gebe.
Zum Schluss appelliert Henriette Kretz an die Schülerinnen und Schüler: "Ich glaube an die Jugend! Ich glaube an Euch! Lasst Euch nicht verwirren durch Hass und Hetze!"
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