Während der Pandemie starben mehr Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker standen und stehen vor neuen Herausforderungen. Und womöglich drohen uns in den kommenden Jahren noch viel mehr Fälle von Alkoholsucht.
Im November 1953 fand das erste Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) in Deutschland statt. Heute gibt es bundesweit mehr als 2.000 AA-Gruppen, in denen Menschen gemeinsam Wege aus der Sucht suchen. Einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit: der persönliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Die Gemeinschaft nimmt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, sie finanziert sich allein durch Spenden.
Die Gründer der Bewegung, zwei US-Amerikaner, waren selbst alkoholkrank. Sie erkannten, dass der Zwang zum Alkoholkonsum nachlässt, wenn man sich offen in einem geschützten Raum über seine Krankheit unterhält. Mittlerweile haben verschiedene Studien die Wirksamkeit der AA-Treffen nachgewiesen. Sie sollen den Menschen sogar besser helfen, abstinent zu bleiben, als vergleichbare Therapien. Deshalb setzen neben den Anonymen Alkoholikern heute auch Träger wie das Blaue Kreuz oder der Kreuzbund auf Selbsthilfe.
Mehr Tote durch Alkohol während Corona-Pandemie
Wie viele Betroffene diese Angebote wahrnehmen, lässt sich nur schwer beziffern. Laut Bundesgesundheitsministerium liegt bei rund neun Millionen Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren ein problematischer Alkoholkonsum vor. 1,6 Millionen Menschen sind alkoholabhängig.
Die Corona-Pandemie verschärfte die Situation, zeigen Untersuchungen deutscher Suchtexperten: Zwar wurde insgesamt weniger Alkohol verkauft und getrunken, jedoch stieg die Zahl der Menschen, die an alkoholbedingten Krankheiten starben, um fünf Prozent. Den Wissenschaftlern zufolge gibt es dafür zwei Erklärungen: Wer bereits vor der Krise einen hohen Alkoholkonsum hatte oder besonders mit den emotionalen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen hatte, trank nun mehr. Außerdem konnten Menschen mit chronischen Alkoholproblemen nicht wie gewohnt medizinisch betreut werden.
Probleme mit Alkohol wurden schlimmer
Wie sehr Betroffene unter der Pandemie gelitten haben, ist noch immer im täglichen Austausch mit ihnen zu spüren, sagt Can Depré von der ambulanten Suchtkrankenhilfe Koblenz. "Die Leute wirken deutlich belasteter und sind nun auch mit anderen psychiatrischen Erkrankungen konfrontiert. Die Inhalte der Beratungen haben sich verändert." Die Anonymen Alkoholiker selbst wollen sich öffentlich nicht zu ihren Erfahrungen äußern. Anders Anne Kerkeling, die für die Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuzes in Linz (Kreis Neuwied) zuständig ist. Sie berichtet von einem Mitglied, das während der Pandemie rückfällig geworden ist. Zuwachs habe die Gruppe hingegen nicht bekommen.
Auswirkungen der Pandemie zeigen sich zeitversetzt
In ihrer gesamten Tragweite werden die Auswirkungen der Corona-Zeit wohl erst in den nächsten Jahren sichtbar sein. Davon geht der Bad Kreuznacher Suchtforscher und -therapeut Michael Klein aus. Denn seit 2020 hätten die Fälle von Angst- und Depressionserkrankungen zugenommen, besonders bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. "Bei einem guten Teil der Betroffenen folgt auf so eine Erkrankung zeitversetzt ein problematischer Substanzkonsum. Das ist ein Versuch, sich selbst zu medikamentieren", so Klein. Alkohol diene diesen Menschen zur Betäubung, Ablenkung und zur Reduktion von Stress und Angst. Nach einiger Zeit des exzessiven Konsums könne sich dann eine Abhängigkeit entwickeln.
Can Depré fürchtet zudem, dass die aktuellen Krisen vermehrten Alkoholkonsum begünstigen. "Viele wissen wegen der Inflation nicht, wie sie die Miete und ihre Energiekosten zahlen sollen. Jetzt auch noch die Nahostkrise, wir haben ganz viele Krisen zu bewältigen. Und damit geht einher, dass die Leute mehr konsumieren. Weil sie mit dem Druck nicht mehr klarkommen." Aus seiner persönlichen Erfahrung weiß er auch: Es könnte noch lange dauern, bis diese Menschen sich an Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen wenden. Schließlich müssten sie erst einmal selbst bemerken, dass sie ein Problem entwickelt haben.
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