Eine neue Studie über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche zeigt: Die Fallzahlen sind deutlich höher als bislang angenommen. Das sagen die Kirchen in Ulm und Heidenheim.
Lange Zeit stand die katholische Kirche im Fokus, wenn es um das Thema Missbrauch ging. Seit 2018 wurden auch in der evangelischen Kirche immer mehr Fälle öffentlich. Ein neues Gutachten zeigt: Das Ausmaß wurde bislang unterschätzt - auch im Dekanat Ulm und in Heidenheim.
Dekan: Evangelische Kirche hat ein Strukturproblem
Der Dekan des evangelischen Kirchenbezirks Ulm, Torsten Krannich, ist entsetzt über die Ergebnisse der neuen Studie, die am Donnerstag in Hannover veröffentlicht wurde. "Das macht mich sehr betroffen, weil ich mich frage: Was haben wir falsch gemacht, dass wir denken: Das kann bei uns ja gar nicht sein?" Er selbst beschäftigt sich zwar schon lange mit sexualisierter Gewalt in der Kirche, bislang hat er das jedoch als Randphänomen verstanden.
Dass sexueller Missbrauch aber ein strukturelles Problem der evangelischen Kirche ist, sei nun offensichtlich, sagt Krannich. Das liege auch an der Aufteilung in verschiedene Landeskirchen. Dadurch würde die Aufarbeitung von Übergriffen verlangsamt.
Krannich erwartet Kirchenaustritte
Krannich ist überzeugt: Das Vertrauen vieler Menschen in die evangelische Kirche sei durch das Wissen um die vielen Missbrauchsfälle stark beschädigt worden. Er rechnet fest mit einer Welle an Kirchenaustritten.
Heidenheimer Pfarrerin: Gute Arbeit der Kirche gerät in Vergessenheit
Auch Iris Kettinger hat die Veröffentlichung des Gutachtens am Donnerstagmittag verfolgt. Sie ist Pfarrerin in der Heidenheimer Johanneskirche. Lange Zeit glaubte man, dass sexuelle Gewalt ein katholisches Problem sei, sagt auch sie. Ein Problem, das mit dem Zölibat und sexueller Enthaltsamkeit erklärt wurde. Die neue Studie zeigt jedoch: Auch verheiratete Männer haben Kinder und Erwachsene missbraucht. Zwei Drittel der mutmaßlichen Täter waren Ehemänner.
Ulmer Forscherin: Kirchenhierarchien begünstigen Missbrauch
Miriam Rassenhofer ist Leiterin der Sektion Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Verhaltensmedizin an der Universitätsklinik Ulm. Sie hat untersucht, wie es in Einrichtungen der evangelischen Landeskirche Württemberg um den Schutz von Kindern und Jugendlichen steht.
Miriam Rassenhofer forscht an der Uniklinik Ulm zu den Missbrauchsproblemen der evangelischen Kirche. Häufig mangele es an Ansprechpersonen, an die sich betroffene Kinder und Jugendliche wenden können, so Rassenhofer. Außerdem gebe es teils ausgeprägte Hierarchien und damit ungleiche Machtverhältnisse. Dies führe dazu, dass Missbrauchsverdacht im System der evangelischen Kirche zu wenig Gehör findet.
"Sprechfähigkeit" von Kindern erhöhen
Um Kinder und Jugendliche zu schützen, sollten Einrichtungen ihnen zuhören, sagt die Forscherin: Junge Menschen sollten an Entscheidungen mitwirken können. Außerdem müsse ihnen ein Wissen über Sexualität und sexuelle Gewalt vermittelt werden. Damit erkennen sie Grenzüberschreitungen besser und ihre "Sprechfähigkeit" werde weiter erhöht.
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