Eine am Donnerstag vorgestellte Studie beleuchtet erstmals sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche umfassender. An der Studie gibt es allerdings auch Kritik. Die Landeskirchen in RLP haben schon im Vorfeld Zahlen veröffentlicht.
Mindestens 2.225 Kinder und Jugendliche sind seit 1946 in Deutschland von Priesterinnen und Priestern oder anderen Mitarbeitenden der Evangelischen Kirche in Deutschland sexuell missbraucht worden. Dieses Ergebnis hat eine Studie des Forschungsverbunds ForuM gebracht, die am Donnerstag in Hannover vorgestellt wurde. Die Zahl der mutmaßlichen Täterinnen und Täter liegt danach bei 1.259. Eine Hochrechnung der Zahlen in der Studie kommt gar auf 9.355 Missbrauchsopfer und 3.497 Beschuldigte.
Bereits vor Veröffentlichung der Studie hatten die drei in Rheinland-Pfalz vertretenen Landeskirchen eigene Zahlen zu sexuellem Missbrauch publik gemacht. So sehen sie aus.
- Evangelische Kirche im Rheinland
- Evangelische Kirche der Pfalz
- Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Evangelische Kirche im Rheinland
Vor einer Woche gab die Rheinische Landeskirche, die in Rheinland-Pfalz unter anderem Koblenz und Trier sowie Eifel, Hunsrück und Teile der Nahe-Region abdeckt, Zahlen bekannt: Seit 1946 gebe es hier 70 bekannte Verdachtsfälle. 59 davon seien auf Pfarrerinnen und Pfarrer sowie angestellte Kirchenmitarbeitende (zum Beispiel Hausmeister, Lehrer oder Kantoren) zurückzuführen.
Die Ergebnisse der ForuM-Studie bezeichnete der Präses der rheinischen Kirche, Thorsten Latzel, als "erschütternd". Er kündigte an, die Ergebnisse "gründlich" zu analysieren."
Evangelische Kirche der Pfalz
Die pfälzische Landeskirche, die neben der Pfalz auch Teile des Saarlands umfasst, berichtet von 49 Verdachtsfällen seit 1947, von denen 22 bestätigt seien. In neun Fällen gingen diese offenbar auf Erzieherinnen oder Erzieher zurück, in sieben Fällen auf Pfarrer.
"Die Gewalt, die Menschen in der evangelischen Kirche widerfahren ist, das Wegsehen, das immer wieder stattgefunden hat, das Versagen unserer Kirche und Diakonie in vielen Fällen macht mich fassungslos und erfüllt mich mit tiefer Scham", sagte die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst am Donnerstag.
49 Fälle sexualisierter Gewalt in der Pfalz Evangelische Kirche: Pfälzer Kirchenpräsidentin fordert Konsequenzen
Die Pfälzer Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst hat sich zur Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche geäußert. Es geht um 49 Fälle in der Pfalz.
Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die in Rheinland-Pfalz hauptsächlich für Rheinhessen zuständig ist, berichtet von 45 Verdachts- oder bestätigten Fällen seit der Nachkriegszeit. Diese Zahl sei auch in die ForuM-Studie eingegangen. In den meisten Fällen seien Pfarrer die Täter beziehungsweise Verdächtige, heißt es weiter.
EKHN-Präsident Volker Jung will Betroffenen Recht verschaffen. Die Studie helfe, Risiken in kirchlichen Strukturen zu erkennen und weiter präventiv zu arbeiten, sagte Jung am Donnerstag. «Wir werden alles daransetzen, Verdachtsfällen nachzugehen und Fälle aufzuarbeiten.»
Unstimmigkeiten bei Datenlage
Sowohl die Forschenden als auch Betroffenensprecher Detlev Zander betonten, dass die Erhebnung nur "die Spitze des Eisbergs" aufdecke. Viele Opfer von Missbrauch seien noch gar nicht bekannt. Alleine bei ihm hätten sich jüngst 84 Personen gemeldet, die noch keinen Kontakt zur Evangelischen Kirche aufgenommen hätten, sagte Zander dem SWR.
Ein Bericht des ARD-Magazins "Monitor" hatte bereits im Vorfeld der Veröffentlichung nahegelegt, dass die Forschenden von den meisten Landeskirchen keine Einsicht in Personalakten erhalten haben.
Pfälzische Kirchenpräsidentin verteidigt die Studie gegen Kritik
"Dass es ein Komplettversagen an den Akten war, würde ich ungern so stehen lassen. Das stimmt tatsächlich nicht", sagte die pfälzische Kirchenpräsidentin Wüst zu der Kritik "Was stimmt, ist, dass es mehr Akten gibt, die man erfassen könnte. Und dann würde man auch zu anderen Zahlen kommen." Den Erfolg der Studie will Wüst aber nicht nur daran festmachen. Zahlreiche Erkenntnisse über systemische Bedingungen, die sexualisierte Gewalt ermöglicht haben, seien ebenfalls wertvoll.
Einige Landeskirchen hatten schon vor der Veröffentlichung darauf verwiesen, dass die vor Kurzem selbst veröffentlichten Zahlen und die für die ForuM-Studie übermittelten Daten nicht eins zu eins übereinstimmten. So auch die Pfälzer Landeskirche: Insgesamt seien lediglich 27 Fälle der insgesamt mehr als 40 Verdachtsfälle übermittelt worden. Als Grund nannte die Landeskirche, dass die Studie nur bestimmte "Fallkonstruktionen in ihrer Untersuchung berücksichtigt" habe. Außerdem seien in die Erhebung nur Fälle bis zum Stichtag der Studie Ende 2020 eingegangen.
Zander, der selbst seinen Missbrauch im Kinderheim Korntal publik gemacht hat, wertete den Tag der Studienveröffentlichung als "rabenschwarzen" für die Evangelische Kirche und "guten" für alle Betroffenen. Zugleich könne die Studie nur ein Anfang sein. "Aufklärung endet nie", sagte der Betroffenensprecher dem SWR. Zander forderte zudem eine den Landeskirchen übergeordnete Stelle zur weiteren Aufarbeitung. "Es kann nicht sein, dass jede Landeskirche machen kann, was sie möchte. Der Föderalismus in der Evangelischen Kirche öffnet sexuellem Missbrauch Tür und Tor".
Kirsten Fehrs, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), entschuldigte sich am Donnerstag bei den Betroffenen sexuellen Missbrauchs: "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten." Fehrs und kündigte weitere Maßnahmen zur Aufklärung sowie weitere Studien an.
Appell von Pfälzer Kirchenpräsidentin Evangelische Kirche der Pfalz: Missbrauchsopfer sollen sich melden
Die Evangelische Kirche der Pfalz appelliert an Missbrauchsopfer, sich zu melden. "Die Menschen finden offene Ohren in der Kirche", betonte die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst.