Die Chance, Zeitzeugen des Holocaust kennenzulernen, sinkt. Das Aalener Theodor-Heuss-Gymnasium hat sie genutzt und Eva Erben eingeladen.
Standing Ovations im großen Hörsaal der Hochschule Aalen nach gut zweieinhalb Stunden - zweieinhalb eindrucksvolle und bewegende Stunden für rund 400 Schülerinnen und Schüler und etwa 100 Studierende. "Es ist interessant, das, was sonst nur durch geschichtliche Bücher und Filme vermittelt wird, live zu hören und zu sehen", meint eine Studentin hinterher. Eine andere ergänzt, es sei wichtig, dass die Geschichte aufrechterhalten wird und auch die junge Generation darüber informiert wird.
Die Informationen aus erster Hand anlässlich des Holocaust-Gedenktags kommen an diesem Vormittag von einer Frau, die Dinge erlebt hat, die eigentlich zu viel für einen einzelnen Menschen sind: Das Konzentrationslager Theresienstadt, das Vernichtungslager Auschwitz, schließlich den berüchtigten "Todesmarsch", bei dem SS-Leute rund 1.000 Häftlinge zu Fuß Richtung Westen getrieben haben. Eva Erben war eine von ihnen. Gerade mal 14 Jahre ist sie damals.
Schild an Lieblingseisladen: "Für Hunde und Juden verboten"
Die gut situierte jüdische Familie lebt in den 1930er Jahren in Prag, Evas Vater ist Chemiker und forscht an Kunststoffen. Ihr Leben verläuft zunächst relativ unbeschwert. Bis sie - das kleine Mädchen - sich ein Eis kaufen will und an ihrer Lieblings-Eisdiele ein Schild hängt: "Für Hunde und Juden verboten".
Mit elf Jahren wird Eva Erben ins KZ Theresienstadt deportiert
Wenn Eva Erben solche Erlebnisse schildert, tut sie das ohne jede Spur von Rührseligkeit und Verbitterung. Lebhaft und mit fester Stimme erzählt die 92-jährige zierliche dunkelhaarige Frau mit modisch-schickem Umhang um die Schultern ihre Geschichte. Wie SS-Männer das elterliche Haus plündern und ihre Mutter noch rasch den Kanarienvogel fliegen lässt mit der Bemerkung "damit wenigstens einer von uns frei bleibt". Wie sie mit gerade mal elf Jahren mit ihrer Familie ins KZ Theresienstadt deportiert wird.
Theresienstadt: Ein Ort, den Eva Erben nicht ausschließlich mit schlechten Erinnerungen verknüpft. In der Landwirtschaft arbeitet sie, mit wenig zu essen aber viel Zusammenhalt unter den Häftlingen. Noch ahnt sie nicht, was auf sie zukommen wird.
KZ Auschwitz: Erinnerung an süßlichen Leichengeruch
Süßlicher Leichengeruch. Die Erinnerung an diesen ersten Sinneseindruck ist bei Eva Erben bis heute wach. Mit ihrer Mutter wird sie nach Auschwitz verlegt. Die Rampe am Bahnsteig, an der der Günzburger KZ-Arzt Josef Mengele die eintreffenden Menschen sortiert ("Links geht es ins Gas - rechts zur Arbeit"). Das Abrasieren ihrer Haare. Die Dusche, zusammen mit vielen anderen Häftlingen, mit abwechselnd glühend-heißem und eiskaltem Wasser. Die Baracke, zu fünft zusammengepfercht in einem Zweier-"Bett".
Die deutschen Bewacher lernt das junge Mädchen von sehr unterschiedlichen Seiten kennen: Da ist einerseits der Wachmann, der ihr mit dem Gewehrkolben zwei Zähne ausschlägt, weil sie zunächst zwei linke Schuhe zugeteilt bekommt und im Schuh-Haufen nach einem rechten wühlt. Da ist aber auch der höhergestellte SS-Mann, der dem barfuß-gehenden Mädchen unter der Hand ein Paar gute Schuhe zukommen lässt.
Der Todesmarsch: Qual und Entkommen
Diese Schuhe tragen Eva Erben auch durch den berüchtigten Todesmarsch, als sie und ihre Mutter gemeinsam mit rund 1.000 anderen Häftlingen nach Westen getrieben werden, weil sich die sowjetische Armee unaufhaltsam Auschwitz nähert. Wer nicht mehr weiter konnte, wurde sofort erschossen, erinnert sie sich. Ihre Mutter stärkt ihr Durchhaltevermögen mit Ideen, was sie gemeinsam unternehmen werden, wenn sie wieder zu Hause sind. Doch schließlich ist sie es, die auf einem Zwischenstopp stirbt.
Eva überlebt: Sie entkommt, als sie - ebenfalls bei einem Zwischenstopp - in einer Scheune offenbar so tief im Heu verschwindet, dass die Peiniger sie nicht entdecken. Obwohl sie das Heu regelmäßig mit Heugabeln durchstechen, um versteckte Häftlinge aufzuspüren. Als sie aufwacht, sind die anderen weg.
Neues Leben im neu gegründeten Staat Israel
Nach einer Odyssee durch Polen wird das ausgemergelte Mädchen schließlich von einem tschechischen Ehepaar gepflegt und bis Kriegsende versteckt. Anschließend geht Eva Erben zunächst zurück nach Prag, lebt in einem Waisenhaus und macht eine Ausbildung als Krankenschwester. 1949 wandert sie in den neu gegründeten Staat Israel aus, heiratet, bekommt Kinder. Dort - in Aschkelon - lebt sie bis heute.
Eva Erben: "Antisemitismus ist eine chronische Krankheit"
Über 40 Jahre lang spricht sie kein Deutsch. Eine Zufallsbegegnung mit zwei Jugendlichen aus München in den 1980er Jahren bricht ihr Eis. Anlässlich einer Buchvorstellung über ihre Erinnerungen reist sie nach Deutschland. Und seitdem immer wieder. Sie erzählt Schülern und Studierenden ihre Geschichte. Antisemitismus ist eine chronische Krankheit, so ihre Erfahrung. "Aber diese Kinder sehen mich, sie wissen: Jedes Wort, das ich sage, ist wahr. Sie treffen jemanden, der Mengele und Eichmann gesehen hat, der in Auschwitz war. Und der trotzdem an das Gute in den Menschen glaubt."
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