Manche halten sie für die bekannteste Notärztin Deutschlands - spätestens seit Corona. Im SWR-Videopodcast "Zur Sache intensiv" sagt Lisa Federle, viele Politiker seien "verweichlicht".
Die Tübinger Notärztin Lisa Federle - bekannt durch ihr großes Engagement in der Pandemie - hält es für einen schweren Fehler, dass es keine Aufarbeitung der staatlichen Corona-Politik durch den Bundestag geben soll. "Ich finde es eine Katastrophe, wie man mit der Aufarbeitung von Corona umgeht", sagte Federle im SWR-Videopodcast "Zur Sache intensiv". Sie habe Verständnis dafür, dass man in einer Notlage handeln und die Corona-Impfung schnell einführen musste. "Aber jetzt ist es so, dass wir längst Zeit haben könnten, um sämtliche Nebenwirkungen, sämtliche Zwischenfälle, sämtliche Folgen, Impfschäden und so weiter auch zu erheben und die auszuwerten und den Leuten das auch ehrlich weiterzugeben. Und da fehlt mir schon der Wille."
Cannabis wichtiger als Corona: Federle kritisiert Lauterbach
Sie habe deswegen auch schon Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschrieben, der aber mittlerweile "leicht autistische Züge" aufweise. Sie hielt ihm vor, sich mehr um die Legalisierung von Cannabis zu kümmern als um Corona. "Irgendwann war halt die Legalisierung von Drogen für das Gesundheitsministerium wichtiger", sagte die 63-jährige Federle, die auch CDU-Mitglied ist. Eigentlich sollte ein Gremium des Bundestags die Politik während der Pandemie aufarbeiten. Doch die Ampel-Koalition konnte sich nicht auf das Verfahren einigen, hieß es vor etwa drei Wochen.
Federle befürchtet nun, dass es zu einem weiteren Vertrauensverlust für die Politik kommt. "Dieses ungute Gefühl bleibt und ich bin mir sicher, ich habe ja oft genug auch erlebt, wie sich da Leute abspalten und auch völlig irrational irgendwie mit dem Thema umgehen. Ich bin auch sicher, dass die AfD einen Teil ihrer begeisterten Wähler oder Zuströme aus dieser Ecke mit hat."
Notärztin appelliert an Politik: Mit Wahrheit kann man umgehen
Sie appellierte an die Politik, sich dem Thema doch noch anzunehmen. "Ich finde, wir haben die Verantwortung das aufzuarbeiten, selbst wenn dann rauskommt, dass man Fehler gemacht hat oder dass irgendjemand was unterschlagen hat." Auch mit einer schwierigen Wahrheit könne man besser umgehen als mit einer Lüge. "Also wenn zu mir einer kommt und dann hinterher sagt: 'Du, ich hab dich da angelogen, kannst du mir verzeihen?', kann ich das. Wenn ich aber permanent das Gefühl habe, der lügt mich an und lügt mich auch weiter an, dann werde ich nie zu dem Vertrauen haben."
FDP fordert Untersuchungskommission zur Corona-Aufarbeitung
Zur Kritik der Tübinger Notärztin an der Corona-Aufarbeitung äußerte sich auch der gesundheitspolitische Sprecher der baden-württembergischen FDP-Fraktion, Jochen Haußmann. Er fordert ebenfalls eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Maßnahmen, die im Zuge der Corona-Pandemie getroffen wurden.
"Wir dürfen nicht einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen", sagte Haußmann. Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel, Schlüsse aus der Corona-Pandemie zu ziehen und diese politisch zu verwirklichen, müsse umgesetzt werden. Die FDP fordere daher die Einsetzung einer Enquete-Kommission "Pandemie" auf Bundesebene.
Federle hat Verständnis für Menschen, die "Angst" hatten
Federle stellte klar, dass sie für "radikale Querdenker" nie Verständnis gehabt habe. Als Ärztin könne sie aber verstehen, "wenn jemand Angst vor etwas hat. Also wenn jemand Angst hat, Tabletten zu nehmen oder geimpft zu werden oder mit irgendetwas konfrontiert zu werden, kann ich das verstehen." In der Corona-Zeit habe es eine Menge solcher Menschen gegeben. "Aber umgekehrt gab es auch ganz viele Menschen, die Angst hatten, dass sie sterben. Das darf man nicht vergessen." Die Ärztin hatte im März 2021 gemeinsam mit Tübingens OB Boris Palmer das "Tübinger Modell" umgesetzt, bei dem Gäste in die Stadt zum Shoppen durften, wenn sie einen tagesaktuellen negativen Corona-Schnelltest vorweisen konnten oder gemacht haben.
Die Notärztin, die auch Bestsellerautorin ("Auf krummen Wegen geradeaus") ist, will den Menschen mit Lesungen Mut machen. "Die einen haben Angst vor Krieg, die anderen haben Angst vor Armut. Die Dritten haben Angst vor Ausweisung. Die Vierten haben Angst vor Ausländern, die fünften haben Angst vor Viren." Sie wolle den Menschen zeigen: "Wir kriegen das schon hin, wenn wir zusammenhalten. Wir haben auch Corona durchgestanden. Nur sollten wir es halt anders machen wie da." Deshalb müsse man Schlüsse ziehen aus der Pandemie. Wichtig sei die Frage: "Wie schaffen wir es, dass wir hinterher nicht eine Gesellschaft haben, die komplett auseinanderdriftet?"
Vor rund zwei Jahren war Lisa Federle zu Gast bei SWR1 Leute und gab unter anderem Einblick in die Corona-Aufarbeitung in Tübingen:
Federle fordert Neuanlauf für soziales Pflichtjahr
Ein Beitrag zu mehr Zusammenhalt wäre aus ihrer Sicht ein Neuanlauf für ein verpflichtendes soziales Jahr nach der Schule. "Ich glaube, man verliert keine Zeit, wenn man ein Jahr die Welt mal von der anderen Seite sieht", sagte Federle. "Ich glaube, nur durchs Hören lernst Du viele Dinge nicht. Du musst was leben und spüren und mitkriegen. Und wenn du ältere Menschen, wenn du Kranke mitkriegst, wenn du Schwache mitkriegst, dann hast du einen ganz anderen Bezug zu den Menschen." Und: "Du hast einen ganz anderen Respekt davor, was die anderen tun."
Junge Leute sind nach sozialem Jahr "andere Menschen"
Die 63-jährige Ärztin verwies auf eigene Erfahrungen mit jungen Menschen, die mit ihrem freiwilligen sozialen Jahr beginnen: "Die kommen rein, sagen nicht grüß Gott, flegeln rum, lassen ihren Teller stehen, bringen coole Sprüche. Wenn Sie die nach einem Jahr sehen, sind es andere Menschen."
Ihre eigene Motivation, Menschen helfen zu wollen, komme aus ihrer Jugend: "Wahrscheinlich bin ich so geworden, wie ich bin, weil ich diese Kindheit und Jugend hatte und mir total einsam nach dem Tod meines Vaters vorkam und mir gewünscht hätte, ich hätte jemanden, der sich um mich kümmert."
Seit der Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch des Zivildienstes im Jahr 2011 wird immer wieder über die Rückkehr zu den Pflichtdiensten diskutiert - derzeit gibt es den Bundesfreiwilligendienst. Wichtigster Befürworter eines verpflichtenden Dienstes an der Gesellschaft ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Seiner Ansicht nach sollte eine soziale Pflichtzeit zwischen sechs Monaten und einem Jahr lang sein. Während die CDU sich ebenfalls für ein Gesellschaftsjahr ausspricht, sind Grüne und FDP gegen einen solchen Eingriff - auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich skeptisch geäußert.
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