Der Expertenbericht zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Freiburg löste vor einem halben Jahr Bestürzung und Empörung aus. Was hat sich für die Betroffenen geändert?
Von der Veröffentlichung des Missbrauchsberichts hat sich Julia Sander mehr erhofft. Die 42 Jahre alte Freiburgerin schaut vom Schlossberg über die Dächer der Freiburger Altstadt. Ihr Blick bleibt am Münster hängen. Für die ausgebildete Pädagogin ist das Gebäude Symbol einer Organisation, die ihre Täter schützt. Sander war noch ein Kind, als sie von zwei Priestern der Erzdiözese in Freiburg wiederholt vergewaltigt wurde. Heute vertritt sie die Opfer im Betroffenenbeirat Freiburg.
"Wir reden von schwersten Gewaltverbrechen, die an Kindern und Jugendlichen begangen worden sind. Gleichzeitig leben Menschen, die davon wussten und nichts dagegen unternommen haben, unter uns und müssen keine Strafe fürchten", sagt Sander.
540 Mädchen und Jungen Opfer sexualisierter Gewalt
Der Bericht war im April veröffentlicht worden. Er hatte die systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen im Erzbistum Freiburg über mehrere Jahrzehnte offengelegt. Laut dem von unabhängigen Experten erarbeiteten Bericht wurden im Erzbistum seit den 1950er-Jahren mindestens 540 minderjährige Mädchen und Jungen Opfer sexualisierter Gewalt durch katholische Seelsorger. Nach Veröffentlichung des Berichts hatten sich weitere Betroffene gemeldet.
Bekannt sind rund 250 nachweislich schuldig gewordene oder des Missbrauchs beschuldigte Priester. Die Strukturen des Schweigens rund um den ehemaligen Erzbischof Robert Zollitsch schockieren die Menschen bis heute. Aber welche Folgen hatte der Bericht konkret?
Keine Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten
Die Hoffnung, Zollitsch würde mit Erscheinen des Missbrauchberichts doch noch zur Rechenschaft gezogen werden, hat sich nicht erfüllt. Obwohl mehrere Strafanzeigen gegen Kirchenverantwortliche bei der Staatsanwaltschaft eingingen, folgten daraus keine Ermittlungen. Es gebe keine Anhaltspunkte für "nicht verfolgte und noch verfolgbare Straftaten", sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Freiburg Ende Juli.
Magnus Striet, Vorsitzender der Freiburger Aufarbeitungs-Kommission, bedauert dies zutiefst und wünscht sich innerkirchliche Änderungen. "Die katholische Kirche ist bis heute ein sehr autoritär organisiertes System", sagt er. Es müsse viel mehr Gewaltenkontrolle geben, so dass auch Leitungsträger einer Kritik unterzogen werden könnten, wenn sie sich offensichtlich fehlverhalten haben. "Wer die Akten kennt, weiß dass die Verjährungsfristen längst greifen", so Striet. Klar sei dennoch: Im Erzbistum Freiburg wurde geschwiegen, obwohl Verantwortliche Bescheid wussten.
Viele Täter kommen davon, weil die Fälle verjährt sind
Julia Sander sieht die Kirche dafür jetzt anderweitig in der Pflicht. Sie sagt: "Wir haben bei Gutachtenveröffentlichung gefordert, dass man sich von Kirchenseite damit beschäftigt, welche Schäden jetzt bei den Betroffenen entstanden sind. Bisher hat sich niemand damit beschäftigt. Und wir erwarten, dass das passiert.“ Betroffene wünschten sich, dass die Kirche ihre Glaubwürdigkeit stärkt.
Kirche soll die Glaubwürdigkeit der Betroffenen bezeugen
Sander fordert Unterstützung von Seiten der Erzdiözese und zwar in einer sehr konkreten Sache. Opfer sexuellen Missbrauchs haben in Deutschland das Recht auf staatliche Opferentschädigung. Doch wer sie bewilligt bekommen will, sollte viele Informationen nachweisen können. Beim Stellen des Antrags müssen die Betroffenen sehr präzise beschreiben, wann, wo und wie genau die Tat stattgefunden hat. Diese genauen Angaben zur Tatzeit, dem Tatort und dem Tathergang stellten eine große Hürde dar, so Sander.
Denn: Wer als Kind sexuell belästigt wurde, kann die geforderten Beweise oft nicht vorlegen. Das liegt daran, dass vielen Kinder damals nicht geglaubt wurde, es keine Zeugen gab oder Informationen vertuscht wurden.
Personalakten könnten bei Opfer-Entschädigung helfen
Deswegen wünscht sich Julia Sander, dass die Erzdiözese Freiburg ihr hilft. Denn sie hat Zugang zu den Kirchenakten. Und somit wichtiges Wissen, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen stützen kann. Auch wenn aus dem Missbrauchsbericht hervorgeht, dass viele Vorkommnisse wahrscheinlich erst gar nicht dokumentiert oder Informationen aus der Täterakte entfernt wurden - einige Informationen bleiben erhalten.
So könne etwa auch eine Lücke in einer Personalakte oder eine "Versetzung aus gesundheitlichen Gründen" als Alarmsignal gelesen werden, dass Priester sich schuldig gemacht hätten, so Sander. Deswegen hofft sie, dass Vertreter des Versorgungsamts - welche die Opferentschädigungsanträge bearbeiten - und des Ordinariats sich an einen Tisch setzen. Gemeinsam könnten sie überlegen, welche Infos aus den Kirchenakten den Betroffenen dabei helfen könnten, die Opferentschädigung zu beantragen. "Das würde die Glaubwürdigkeit der Opfer wesentlich erhöhen", ist sich Sander sicher.
Julia Sander war jahrelang in Therapie, sie leidet bis heute unter Traumafolgen und kann nicht mehr als Pädagogin arbeiten. Entsprechend wichtig ist für sie die finanzielle Unterstützung. Dafür gibt es für Betroffene drei verschiedenen Möglichkeiten. Erstens die kirchliche Opferrente - eine Besonderheit, die nur die Erzdiözese Freiburg auszahlt. Zweitens Zahlungen über die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) der katholischen Kirche. Und drittens die Opferentschädigung vom Staat.
Die Erzdiözese verweist auf kirchliche Zahlungen
Generalvikar Christoph Neubrand, Stellvertreter des Freiburger Erzbischofs, sagt dazu: "Wir wollen, dass die Betroffenen ohne Gerichtsurteil zu ihrer Anerkennung kommen - dafür gibt es unter anderem die UKA." Julia Sander aber wünscht sich - unabhängig davon - eine Opferentschädigung vom Staat. Denn diese umfasst wesentlich mehr Leistungen wie Berufsschadenausgleich, Heil- und Hilfsmittel sowie Pflegezulagen.
Sander wandte sich an Ministerpräsident Kretschmann
Deswegen ist Julia Sander die staatliche Opferentschädigungsrente so wichtig. Und sie lässt nicht locker. Sogar den baden-württembergischen Ministerpräsidenten hat sie schon angeschrieben und um die Einrichtung eines runden Tisches gebeten, der die Verantwortlichen des Staatlichen Opferentschädigungsgesetzes mit der Bistumsleitung der Erzdiözese Freiburg zusammenbringt.
Betroffene fühlt sich allein gelassen
In der Antwort schreibt Staatssekretär Florian Hassler im Auftrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), dass die "Ausgestaltung und Durchführung des Fallmanagements Aufgabe der Stadt- und Landkreise" sei - und spielt somit den Ball wieder zurück. Er empfiehlt Sander und anderen Betroffenen, aktiv auf das Versorgungsamt des hiesigen Landratsamts zuzugehen. Sander sagt: "Ich fühle mich als Betroffene allein gelassen."
Die 42-Jährige lebt ohne eigene Kinder und ohne stabile Beziehung in Freiburg. Immer wieder kämpft sie mit Panikattacken und Alpträumen. Sie hat sich zwischenzeitlich eine Anwältin genommen, auf ihre staatliche Opferentschädigung wartet sie schon seit viereinhalb Jahren.